Kapitel 28 / Tränen des Mondes


Rajael stand inmitten der Flammenwand, ihre roten Haare leuchteten wie eine geheimnisvolle Aura und umgaben ihr Gesicht mit einem unheimlichen Schein. Sie war wie erstarrt und starrte den Mann an, der ihr gegenüber stand und sie an den Händen festhielt. Sanft war sein Blick und so viel Liebe sprach aus ihnen, dass Rajaels Herz schier überlief vor geschenkter Kraft.
»Jonah«, flüsterte sie und sank in seine Arme. »Du hast mich verlassen!«
»Nein, mein Herz. Ich musste gehen, sonst wärst du irgendwann gegangen. Ich hatte dir nichts mehr zu bieten. Und ich wollte nicht, dass du mein Herz brichst, also bin ich gegangen. Verzeih mir!«, flüsterte er in ihr Haar. Rajael erbebte und küsste ihn stürmisch.
»Verlass mich nie wieder!«
»Ich werde nirgendwo mehr ohne dich hingehen, ich  verspreche es dir!« Jonah zog sie noch ein wenig fester in seine Arme. Dann erst lösten sie sich voneinander und zogen Rücken an Rücken in den Kampf, der alles entscheiden sollte.

Kian hatte sich gerade von seinem Gegner befreit, als jemand neben ihm laut applaudierte.
»Glückwunsch, grottiger Wolf, selbst du kannst also jemandem mehr weh tun als ihn nur unsanft zu zwicken.« Kian drehte den Kopf und entdeckte Azure neben sich.
»Du?«, fauchte er ungläubig.
»Ja ich! Ich bin schließlich wirklich Seths Tochter, die einzige in diesem Haus, die reinblütig ist. Leider durfte ich dir damals nichts tun, allerdings hast du dein Wesen auch gut versteckt. Schade schade, aber hier habe ich keine Zeit für dich, du wirst auch so niemandem zur Last fallen, du kleiner schwacher Hund.« Mit einem grausigen Lachen sprang Azure davon und ließ Kian alleine inmitten der abgebrannten Waldruinen zurück. Kurz überlegte er, ihr nachzusetzen, doch Kian blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken, als sich ein schmaler dunkler Schatten auf ihn warf. Frustriert brüllte Kian auf und wich zur Seite, doch der Schatten folgte ihm sofort.

»Wo ist sie, wo ist meine Tochter?«, Devor sah sich hektisch nach allen Seiten um. Neben ihm kauerten Lavor und Lehta, die sich beide zu alt zum Kämpfen fühlten und vor allem über keinerlei magischen Fähigkeiten verfügten, sie waren einfach nur Menschen.  Doch auch sie konnten ihm nicht helfen, der Rauch ließ alles vor ihren Augen verschwimmen und der Lärm kreischte ihnen in den Ohren. Freund und Feind wurden zu einer undurchdringlichen Masse und als ein Schrei ertönte, der von jedem stammen konnte, sprang Devor auf und stürzte sich in den Kampf.

Alyssa war ebenfalls mittendrin, sie war mit den anderen hinausgespült worden und hatte sich nicht zurück ins Haus retten könnten. Nun kauerte sie unter einen Busch, der bisher von den Flammen verschont geblieben war, doch sie wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis sie auch hier keinen Schutz mehr finden würde.
Plötzlich riss sie jemand von hinten an den Haaren heraus und schleifte sie ein Stück weit, bevor er sie auf den kalten Boden fallen ließ. Lachend hob die Kreatur eine behaarte Hand, die an die Pranke eines Bärs erinnerte und wollte diese ihr gerade über den Kopf ziehen, als ein Feach ihn fauchend von hinten ansprang.
Leandriis  brüllte und riss den kräftigen Mann von dem jungen Mädchen weg und warf ihn mit schier unbändiger Kraft zu Boden. Sofort setzte sie ihm nach und schlug ihm so hart auf den Kopf, dass dieser benommen liegen blieb. Schnell packte sie Alyssas Hand und zog sie von dem Schauplatz fort. Doch sie kamen nicht weit. Eine schmale Gestalt trat hinter einem der Bäume hervor und stellte sich ihnen in den Weg.
»Nicht so schnell!«, selbst seine Stimme klang nach Dunkelheit. Wie von Geisterhand erstarrt hielt Leandriis inne und konnte sich nicht mehr bewegen.
»Nein«, Alyssa keuchte, die dunklen Augen weit aufgerissen.
»Wer bist du«, knurrte Leandriis verbissen und kämpfte gegen ihre Erstarrung an.
»Das musst du nicht wissen, nicht mehr!«
»Er ist der Herr über Leben und vor allem über den Tod«, brachte Alyssa plötzlich hervor.  »Du bist die rechte Hand von Mischa. Du bist für die Wolfsjäger verantwortlich. Ohne dich gibt es keine Jagd mehr.«
Überrascht musterte der Fremde das junge Mädchen.
»Du bist gut informiert. Ich frage mich, woher du das alles weißt. Bist du etwa…«, seine Augen weiteten sich überrascht, bevor er seine Mimik wieder unter Kontrolle hatte.
»Du bist das also. Du bist die letzte Erbin unseres Meisters. Wir haben dich lange gesucht und nie gefunden, bis heute wusste niemand wie das sein konnte und nun haben wir dich doch gefunden, am Ende von allem. Und doch stehst du auf der falschen Seite!«
»Ja«, Alyssa richtet sich plötzlich auf. Ihre ganze ängstliche, unterwürfige Körperhaltung änderte sich. Sie war schön und stark. Und sie war sich plötzlich sicher.
»Mischa war mein Vorfahr und mit mir wird diese Linie enden. Ich hätte es schon viel früher beenden sollen, aber wer verlässt schon freiwillig sein Leben wenn er leben möchte. Es tut mir leid, Leandriis. Ich hätte dir dies alles ersparen sollen, aber ich war schwach. Ich wollte leben.«  Sie machte einen Satz nach vorne und während der Fremde noch reagieren wollte, hatte sie seinen Dolch gepackt und sich ins Herz gerammt. Gleißendes Licht erfasste den Wald, die Nacht, und eine lautlose Magieexplosion ließ alle Wesen aufschreien, egal ob Freund oder Feind. Dann gingen alle dunklen Erben in die Knie. Wolfsjäger und alle Schattenwesen vergingen von einem Augenblick zum anderen. Die Erde erbebte und war dann still.

Nein! Leandriis konnte es nicht mehr ertragen, sie wollte ihre Freunde nicht sterben sehen. Nicht heute. Niemals mehr. Zu viel Leid war schon entstanden und sie wollte nicht mehr verantwortlich dafür sein. Entschlossen sprang sie auf. Fauchend und mit wehenden Haaren trat sie in das brennende Flammenmeer. Schrie all ihre Wut hinaus. Und plötzlich war um sie herum alles still. Wie im Auge eines Sturmes stand sie in einer Blase, konnte das Inferno um sich herum sehen, aber nicht spüren und nicht hören. Tief atmete sie ein. Schloss die Augen. Atmete wieder aus. Öffnete die Augen. Und sah sich einer Gestalt gegenüber, welche von sanftem, blauen Licht umspült wurde.
»Cassian«, flüsterte sie leise.
»Ja, mein Mädchen. Du hast es begriffen! Deine Liebe zu den Feach öffnet das Paradies. Deine Liebe für Kian und für Alyssa und all die anderen ist das Geheimnis. Mein Kind. Du bist nur dafür geboren worden. Für all die Liebe. Für das Leben der anderen. Lass los.«
Damit erlosch die Blase und das Inferno ergriff das junge Mädchen, doch sie spürte es nicht. Fühlte bloß die unendliche Liebe in ihrem Herzen. Für all die Feach, die sie retten wollte. Für Alyssa. Für Rajael. Für ihren Vater. Für Kian. Für die Welt. Und sie verschwand.

An ihrer Stelle öffnete sich eine neue Welt. Ein Tal voller schattiger Plätze, sonnendurchfluteter Wiesen und voller spielender und dösender Feach. Leandriis selbst war das Paradies! Durch ihr Opfer wurde das Tal der Wölfe, das Súil, geboren und bot all jenen Feach, die sich danach sehnten, eine Zuflucht. Für immer!

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