Kapitel 25 / Tränen des Mondes


Erschrocken sah sie auf und starrte direkt in die blauen Augen ihres Vaters.
»Es war nie mein Wille, dich in dieser Menschenwelt auszusetzen, aber die Prophezeiung sprach davon, dass du uns nur retten konntest, wenn du unter Menschen aufwachsen würdest. Wenn du die Liebe und die Abneigung dieser Leute kennen lernst. Wenn du nichts von uns weißt, zumindest nicht von Anfang an. Wenn du lernst, dass unser Hass auf die Menschen nicht richtig ist und dass ihr Hass auf uns nicht richtig ist. Wir haben versucht unter und vor allem mit ihnen zu leben, aber ihre Angst ist zu groß, wenn wir uns offenbaren. Sie sind unter ihresgleichen nicht bereit, Minderheiten zu akzeptieren, ihre Bereitschaft Wesen wie uns zu akzeptieren, ist noch sehr viel geringer. Ich liebe dich Leandriis. Deine Mutter liebte dich. Aber wir mussten uns dem Rat beugen und konnten dich  nur aus der Ferne heran wachsen sehen. Es hat mir das Herz gebrochen, deiner Mutter hat es das Leben ausgesogen, aber ich wusste, wir würden uns irgendwann wieder gegenüber stehen. Und ich hoffe, dass es all die Opfer wert war. All die Schmerzen und all den Verlust. Du bist der Schlüssel, ausgerechnet meine wunderschöne, tolle, starke Tochter ist der Schlüssel.« Mit Traurigkeit in der Stimme verklang er und schwieg, ließ all seine Liebe aus seinem Blick sprechen und verdrängte den Schmerz um zu viele geliebte Menschen und Feach.
»Wie? Wie soll ich euch retten? Mich retten?«
»Ich weiß es nicht Leandriis. Wir müssen abwarten, was geschieht. Es hat schließlich bereits begonnen. Feach sind auf dem Weg hierher. Ich spüre sie. Der Wald spürt sie. Es wird nicht mehr lange dauern. Und dann sind wir bereit. Worauf auch immer!«

Damit verschwand er wieder und ließ Leandriis und Alyssa alleine am Bach zurück. Lange sprach niemand von beiden, bis Leandriis traurig seufzte.
»Schön und gut«, murmelte sie. »Aber es ändert nichts.«
»Doch«, wiedersprach Alyssa plötzlich heftig. »Es ändert alles.«
»Was?«
»Du warst vielleicht dein Leben lang von ihm getrennt, aber du hast nun die Möglichkeit bei ihm zu sein. Ich werde das nie wieder haben. Meine Eltern sind wahrlich tot und niemals wieder werde ich mit ihnen sprechen können. Niemals wieder! Du hast diese zweite Chance, wirf sie nicht einfach weg, weil du verletzt bist! Ich kann dich verstehen, wirklich! Aber spring über deinen Schatten! Er ist dein Vater! Was würde ich für deine Chance geben. Wie sehr möchte ich mich noch einmal in die Arme meines Vaters werfen und festhalten lassen. Wie sehr«, leise verklang Alyssa und Leandriis wagte es nicht zu antworten. Sie legte nur sanft ihre Arme um die schmalen Schultern des mageren Mädchens und zog sie fest an sich.
»Danke«, flüsterte sie in ihr Haar und schwieg.

Zurück im Speisesaal war ein weiterer Gast eingetroffen. Abgekämpft, die roten Haare in einem unordentlich seitlich geflochtenen Zopf zerrupft, saß Rajael am Tisch und sah sich im gleichen Moment von Leandriis fast umgeworfen, als sie sich ungestüm auf sie warf und ihr die Arme um den Hals schlang.
»Wie kommst du hierher«, fragte Leandriis japsend, als sie sich endlich von der Freundin lösen konnte.
»Ich wurde gerufen. So wie wir alle gerufen wurden.«
»Gerufen, von wem und wie?«
»Durch dich, mein Mädchen. Du bist dort angekommen, wo deine Reise dich hinführen sollte, hier befindet sich das Schloss zum Paradies und du, du bist der Schlüssel.« Leandriis starrte sie ungläubig an.
»Warum hast du mir das nicht schon damals gesagt? Dann hätte ich sofort hierher kommen können.« Unglauben und vor allem Misstrauen schlichen sich in Leandriis moosgrüne Augen und verfärbten sie dunkel wie die wütende See.
»Weil niemand wusste, wo dieser Schlüsselort auf dich wartet, meine Kleine. Nur du selbst konntest diesen Ort finden. Nur dein Herz konnte die Magie erkennen. Dass es ausgerechnet hier ist, bei ihm, ist allerdings schon interessant.« Rajael schnaubte undamenhaft und strich Leandriis durch die wirren Haare. »Hab Mut, mein Mädchen. Du bist nicht alleine! Wir alle stehen auf deiner Seite und weitere Feach sind auf dem Weg hierher. Hier wird unser Weg enden. Egal wie, aber es wird das Ende sein. Entweder endgültig oder als neuer Anfang. Aber ein Ende ist unausweichlich.«
Leandriis zitterte bei diesen Worten. Sie wusste, welch unmöglichen Hoffnungen in sie gesetzt wurden und sie hatte einfach keine Ahnung, wie sie das rechtfertigen sollte. Sie wusste nicht, was geschehen musste. In ihren Gedanken versunken bemerkte sie erst im letzten Moment wie die Tür aufgerissen wurde und weitere Personen in den Saal strömten.

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