Kapitel 24 / Tränen des Mondes
Es schienen erst wenige
Minuten vergangen zu sein, als beide von dem jungen Mädchen aus der
Eingangshalle geweckt wurden. Lange, aschblonde Haare rahmten ihr zierliches
Gesicht ein, aus dem dunkle, fast schwarze Augen schüchtern hervor blickten,
als sie Leandriis sanft weckte.
»Lehta schickt mich, das
Essen sei fertig«, ihre Stimme war leise und piepsig. Sichtbar war ihre
Schüchternheit darin zu vernehmen. Unruhig fiel ihr Blick immer wieder zu Kian
zurück und leichte Röte brannte auf ihren Wangen.
»Keine Sorge«, Leandriis
berührte sanft ihre Hand. »Ich wecke ihn schon.«
»Danke, vielen Dank!« Zaghaft
drehte sich das Mädchen um und trat neben die Tür, um dort zu warten. Leandriis
selbst wandte sich Kian zu und betrachtete ihn zärtlich. Sein Mund war leicht
geöffnet und seine braunen Haare waren vom Schlaf verwuschelt. Sanft fuhr sie
ihm durch den dichten Schopf und küsste ihn sanft auf die Nase, was ihn
erwachen ließ. Verschlafen blinzelte er sie an und ein strahlendes Lächeln
breitete sich auf seinen Zügen aus.
»Lea«, nuschelte er.
»Ich bin hier. Und du
solltest langsam aus den Federn kommen, mit dem Essen wird auf uns gewartet.«
Kian riss die Augen auf und schien jetzt erst wahrzunehmen, wo sie eigentlich
waren. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett, richtete seine Haare und
versuchte seine Kleidung glatt zu streichen. Viel brachte es freilich nicht,
aber er fühlte sich schon etwas besser.
Vorsichtig räuspere Alyssa,
das junge Dienstmädchen, sich und beide folgten ihr durch den Flur, die breite
Steintreppe hinunter und hinein in einen riesigen Bankettsaal. Eine lange Tafel
war in der Mitte des Raums gedeckt. Und dort stand er. Leandriis blieb
stocksteif stehen und starrte ihn an. Ihn. Ihren Vater.
»Leandriis«, seine Stimme war
rau und belegt. Unbehaglich räusperte er sich und trat verlegen und ein wenig
ängstlich von einem Fuß auf den anderen.
»Leandriis, meine Tochter.
Ich habe so sehr gehofft, dich endlich wieder zu sehen. Du bist so wunderschön.
So erwachsen geworden.«
»Nein«, flüsterte Leandriis
atemlos. »Nein«, schrie sie schließlich und rannte aus dem Raum. Ohne inne zu
halten, durchquerte sie die große Eingangshalle, riss die Tür auf und stürmte
in den nahenden Wald. Ohne einen Gedanken zu fassen lief sie weiter und immer
weiter bis sie zu einem seichten nahen Fluss kam und sich an dessen Ufer fallen
ließ, sich im sonnengewärmten Moos zusammen rollte und haltlos schluchzte.
Salzige Tränen liefen ihr über das Gesicht und verliehen ihrer Verzweiflung
Ausdruck. Kurz darauf näherten sich ihr Schritte, die neben ihr verstummten und
sich ein leichter Körper neben ihr niederließ. Eine zarte Hand fand ihren Weg
zu ihrem Kopf und strich ihr sanft durch die Haare. Überrascht registrierte
Leandriis, dass es ausgerechnet das junge Dienstmädchen Alyssa war, die
gekommen war, um sie zu trösten.
»Warum bist du weggelaufen?
Ist es nicht schön, seine Familie wieder zu treffen«, wagte sie irgendwann
zaghaft zu fragen, als Leandriis´ Schluchzer bereits eine Weile verklungen
waren und man nur noch ihrer beider Atem und den sanften Wind in den
Baumwipfeln wahrnehmen konnte.
»Ich weiß es nicht«, gestand
Leandriis ehrlich. »Ich habe ihn nie gekannt, meine Mutter, ich meine die Frau,
die mich aufgezogen hat und ihr Mann waren meine einzige Familie, die ich je
hatte. Und nun komme ich hierher, wurde damit verflucht, meine Art zu retten,
ohne dass ich es wollte oder eine Ahnung habe, wie das gehen soll und stehe
plötzlich vor meinem Vater. Warum? Er hat mich weggegeben, hat sich nie für
mich interessiert und er wusste es. Er hat mir nie auch nur ein einziges
Zeichen gesendet, dass es ihn noch gibt. Dass er sich für mich interessiert.
Niemals. Hasst er mich so sehr? Kann man sein eigen Fleisch und Blut so
hassen?«
»Nein, ich glaube nicht, dass
er dich hasst«, meinte Alyssa leise. Ihre Stimme war wie flüssiger Rauch und
legte sich sanft um Leandriis Gedanken. »Seitdem ich hier bin, war er immer
traurig und in sich zurück gezogen. Er hat nie gelächelt. Als gestern Abend die
Nachricht von Lavon kam, dass er dich gefunden hätte, war er das erste Mal
nicht finster. Nein, er sah sogar irgendwie glücklich aus.« Alyssa hielt kurz
inne. Tastete nach Leandriis Hand und ließ ihre Finger über ihre gleiten. »Er
hasst dich nicht, da bin ich mir sicher. Verurteile ihn nicht, bevor du nicht
seine Gründe kennst, ich bitte dich.« Tief fraßen sich Alyssas Augen in die
ihren und hinterließen ein kribbliges Gefühl in ihrem Bauch.
»Aber«, widersprach Leandriis
verwirrt. »Warum hat er nie versucht mich zu finden. Ich war immer alleine, ich
hätte ihn, eine Familie, eine wahre Familie, gut gebrauchen können.« Traurig
sah sie über klares Wasser hinweg in den sie umgebenden Wald.
»Ich durfte dich nicht
finden, Leandriis«, dröhnte Demors dunkle Stimme plötzlich über sie hinweg.
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