Kapitel 21 / Tränen des Mondes


Sie erwachte in einer kleinen Lehmhütte, die schwarzen verbrannten Wände rochen nach längst vergessenem Qualm. Wo war sie? Was war passiert? Warum war sie hier? Und wo war Kian? Mit einem Satz schoss sie nach oben und stieß sich den Kopf an der niedrigen Decke, laut vernehmlich schnaubte sie und rieb sich die schnell wachsende, schmerzende Beule an der Stirn.
Langsam konnte sie Schemen in dem Raum wahrnehmen und sie war nicht an die Decke des Hauses gestoßen, sondern gegen die Kante des Bettes über ihr. Sie lag in der unteren Hälfte eines Doppelstockbettes und war alleine. Niemand war mit ihr in dem Raum.
Diesmal deutlich vorsichtiger richtete sie sich auf und schwang die Füße aus dem Bett. Ihre Füße waren nackt und schmutzig und berührten den kalten Steinboden. Fröstelnd sah sie sich um und entdeckte ihre Stiefel schließlich neben der Tür, die nur angelehnt war wie sie nun sah.
Schnell schlüpfte sie in die Schuhe und schob die Tür leicht auf, draußen flackerten zwei Fackeln an der Wand des schmalen Flures und hinter einer weiteren Tür konnte sie leises Stimmengewirr vernehmen. Leandriis schob die Tür weiter auf und trat in den Gang. Hier war es kälter als in dem Zimmer, in dem sie aufgewacht war, aber sie nahm das kaum wahr. Ihre Gedanken kreisten unablässig um Kian. Wo war er? Was war mit ihm geschehen? Lebte er überhaupt noch?
Ein heiseres Lachen lenkte sie ab und zögerlich folgte sie dem Laut bis zur zweiten Tür und lugte durch den schmalen Spalt. Ein breiter, gebeugter Rücken war ihr zugewandt, mehr konnte sie nicht erkennen.
»Nun komm schon herein, kleines Mädchen. Heimlich anschleichen gehört sich nicht!« Die Stimme war rau und alt. Bröckelig wie uralter Fels. »Ich beiße nicht«, fügte er noch hinzu. Leandriis atmete tief ein, stieß die Tür mit der Handkante auf und trat in das hellerleuchtete Zimmer. Ein Feuer flackerte in dem steinernen Kamin und der Geruch von verbrannten Tannenzapfen und Harz übertünchte den Hauch von Blut und Krankheit in dem Zimmer. Der Fremde hatte sich umgedreht und sah sie mit gütigen brauen Augen an, er war alt, sehr alt. Die Haut in seinem Gesicht war zerfurcht und die wenigen Haare auf seinem Kopf waren schlohweiß. Doch was viel wichtiger war, hinter ihm, in einem riesigen Bett lag Kian. Und er lebte! Er sah sie an und aus seinen warmen braunen Augen sprach so viel Liebe zu ihr, dass ihr Herz zu überfluten drohte. Mit einem heiseren Aufschrei warf sie sich auf ihn und erdrückte ihn beinahe zu Tode. Mit einem erschreckten, schmerzerfüllten Laut brachte er sie wieder zur Besinnung und sie ließ vorsichtig von ihm ab.
»Du lebst, du lebst, du lebst«, stammelte sie in einer Tour vor sich hin.
»Ja«, Kians Stimme war schwach und klang wie Steinfelsen, die aufeinander rieben. Geschwächt hob er die Hand und legte sie schwer an Leandriis Wange und strich mit dem Daumen über ihre glatte, weiche Hand. »Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.« Ein mattes Lächeln glitt durch seine Züge, bevor er ermattet die Hand wieder aufs Bett sinken ließ. Kurz darauf war er eingeschlafen. Leandriis wollte ihn berühren und nie wieder loslassen, doch ein leises Räuspern hinter ihr lenkte sie davon ab.
»Lass ihn schlafen, er hat viel Kraft verloren. Ich konnte seine Verletzungen behandeln soweit es ging, den Rest muss die Natur richten und Schlaf ist die beste Medizin. Komm mit, du brauchst etwas zu essen.« Leandriis wollte instinktiv den Kopf schütteln, aber ein lautes Knurren ihres Magens belehrte sie eines Besseren. Mit einem letzten Blick auf Kian folgte sie dem alten Mann aus dem Zimmer und betrat durch den Flur einen dritten Raum der Hütte, welcher eine kleine Küche darstellte. Ein grob zusammen gezimmerten Tisch und zwei Stühle standen in der einen Ecke, ein kleines zerbrechliches Regal in der anderen. Mehr gab es nicht. Ein Regal, ein Tisch, zwei Stühle. Mehr nicht.
»Setz dich«, meine der Alte und holte aus dem Regal ein Brett hervor, stellte es vor Leandriis und legte einen kleinen Laib Brot und einen Kanten Käse darauf. Dann setzte er sich auf den zweiten Stuhl und wartete geduldig, bis sie alles bis auf den letzten Krümel verschlungen hatte.
Leandriis hatte immer noch Hunger, sagte aber nichts. Sie kannte den Fremden nicht und außerdem wusste sie nicht, was er beabsichtigte, er war ihnen scheinbar wohlgesonnt, aber warum? Welchen Plan verfolgte er? In dieser Welt war niemand einfach so nett. Immer gab es einen Preis zu zahlen und Leandriis war vorsichtig und misstrauisch, allerdings schien er ihnen das Leben gerettet zu haben, dies durfte sie nicht vergessen.
»Wer bist du?«, fragte sie, nachdem der Graue nicht von sich aus das Wort ergriff.
»Namen haben keine Bedeutung«, meinte er mit einem stählernen Funkeln in den Augen. »Aber wenn es dir wichtig ist, dann nenne mich Lavon.«
»Lavon?«
»Ja, so nannte man mich vor langer, langer Zeit. Damals gab es hier noch keine Ruinen und doch war es keine schöne Zeit.« Kurz verlor er sich in Erinnerungen.
»Warum hast uns geholfen?« Leandriis riss ihn unsanft in die Realität zurück.
»Ihr braucht Hilfe«, meinte er trocken. »Und außerdem wollte ich wissen, warum zum Henker, sich jemand ausgerechnet hier her verirrt. Dieses Gebiet wird gemieden, seit langer langer Zeit. Niemand kommt hier freiwillig her.« Leandriis schluckte.
»Was ist hier passiert? Warum ist diese Stadt wie sie ist, eine Ruinenstadt? Überall kann man Trauer spüren.« Leandriis Augen waren dunkel vor Schmerz, einem Schmerz, der nicht von ihr kam, sondern den die Stadt ausstrahlte.
»Wirst du mir deine Geschichte erzählen, wenn ich dir meine und die der Stadt erzähle?« Leandriis nickte. Und der Alte begann zu erzählen.

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