Kapitel 20 / Tränen des Mondes
Die
kalten Augen waren grauenhaft aufgerissen, das rechte Ohr fehlte und eine Menge
Blut glänzte noch feucht auf dem nackten Oberkörper.
»Na
Freunde«, selbst die Stimme klang verzerrt und rau.
»S-Seth«,
stammelte Leandriis mit entsetztem Blick in den moosgrünen Augen und taumelte
zwei kleine Schritte zurück, bevor sie gegen eine feuchtkalte Steinwand stieß.
»Was
ist mit Claire geschehen?« Mutig, obwohl ihm das Herz bis zu den Ohren klopfte,
trat Kian vor und stellte sich damit auch zwischen den blutenden, rachsüchtigen
Mann und Leandriis.
»Sie
hat ihre verdiente Strafe bekommen! Ich hätte sie niemals verschonen dürfen,
von Anfang an nicht, aber ich war blind. Blind und so dumm zu glauben, dass sie
anders wäre als ihre Vorfahren, doch das war ein Irrtum. Ein dreckiges
Wolfsblut bleibt eben immer einer von euch.« Aus Seth sprach tiefster,
irrationaler Hass. Er glich kaum noch einem Menschen, seine Augen waren eisige
Höhlen und sein Gesicht war fratzenhaft verzogen. Leandriis lief es eiskalt den
Rücken herunter, eine unbekannte Furcht ergriff sie und ließ sie zittern.
Unkontrolliert sog sie Sauerstoff in ihre Lungen und unbewusst begann sie sich
zu verwandeln. Alle Haare auf ihren Armen stellten sich auf und ein tiefes
Grollen kam aus ihrer Kehle. Erschrocken schlug sie ihre Hände vors Gesicht und
bemerkte ihre Fingernägel, die langsam zu langen Krallen heranwuchsen,
gleichzeitig spürte sie wie sich ihr Innerstes mehr und mehr dem Wesen eines
Wolfes anglich. Dann traf sie eine heftige Ohrfeige im Gesicht und rief sie
zurück in die Realität. Vor ihr stand Kian und sah sie mit einer tiefen
Entschuldigung in den Augen an und schüttelte den Kopf.
»Nein«,
krächzte er heiser. Mit einem Ruck riss er den Pfeil aus seiner Schulter, dann
drehte er sich um, sprang und verwandelte sich in einen Wolf. Wunderschönes
hellbraunes Fell ergoss sich über seinen gesamten Körper, sein Gesicht
verformte sich und eine lange Schnauze wuchs hervor. Seine Hände wandelten sich
zu Pfoten und leichtfüßig landete er auf allen Vieren, nur wenige Meter von
Seth entfernt. Dieser lachte nur und schaurige Wogen des Entsetzens liefen über
Leandriis angespannten Körper, während Kian nur böse knurrte.
»Was
kleiner Wolf? Willst du mich damit beeindrucken? Du bist doch noch ein Welpe,
nicht mal richtig ausgewachsen und bildest dir ein, mich besiegen zu können?
Ach was bist du nur für ein dummer, kleiner Junge.« Und dann fing Seth an, sich
vollkommen zu verändern. Riesige Pranken wuchsen aus seinen Händen, scharf
blitzende Krallen, ein Raubtiergebiss schob sich aus seinem weit aufgerissenen Mund
und braunes Fell spross aus seiner aufplatzenden Haut. All dies dauerte nur
wenige Sekunden und vor den beiden Feach stand ein riesiges Ungeheuer, welches
einer Mischung aus Wolf und Bär ähnelte.
Seth
zögerte nicht nach seiner Verwandlung und sprang mit einem wilden, animalischen
Schrei auf Leandriis zu, doch mit einem gewaltigen Knurren warf sich Kian
dazwischen und die beiden Fellknäuel verhedderten sich ineinander und waren
nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Leandriis quietschte kurz erschrocken,
als beide sich verbissen und schnell das erste Blut aus unzähligen kleinen
Wunden floss, doch sie konnte nicht erkennen, wer von beiden stärker verletzt
war.
Unmenschliches
Gebrüll hallte durch die Stadt, umso lauter wiedergegeben von den zerfallenden
Ruinen. Hier und da vibrierte der Boden unheilvoll. Auch in Leandriis grollte
es, aber sie wagte es nicht, sich dazwischen zu werfen, aus Angst vielleicht
Kian zu verletzen. Plötzlich wurde Kian zur Seite geschleudert und blieb reglos
auf dem Boden liegen, das schokoladenbraune Fell mit dunklem Blut verkrustet.
Seine Brust hob und senkte sich in einem viel zu schnellen Rhythmus und
abgehackte, schmerzerfüllte Laute quollen aus seinem Maul.
Leandriis
wollte zu ihm rennen, doch schon schob sich Seth zwischen die beiden, das
Gesicht zu einer Dämonenfratze verzogen. Vor Schreck stoppte sie mitten im Lauf
und sah sich hilfesuchend um, doch um sie herum befand sich … nichts. Kurz
überlegte sie, sich zu verwandeln, doch sie wusste, dass ihre Wolfsgestalt ihr
nicht helfen würde und sie brauchte einen klaren Kopf um lebend aus dieser
Situation zu kommen und vor allem um Kian zu retten. Doch dann hatte sie keine
Zeit mehr eine Entscheidung zu treffen. Seth machte einen mächtigen Satz, die
mit Krallen bewehrte Tatze zum Schlag bereit und Leandriis reagierte nur noch.
Hastig warf sie sich zu Boden, rollte herum, sprang auf und verwandelte sich
mitten im Sprung. Seth knurrte und sah sich einer kleinen, grazilen Wölfin
gegenüber, die ihn aus grünen Augen zornig anfunkelte. Leandriis wusste, dass
sie gegen den Bären keine Chance hatte, aber sie würde keinesfalls kampflos
aufgeben, in ihr steckte eine Kämpferin und das würde Seth zu spüren bekommen.
Doch bevor sie überhaupt dazu kam, den Hünen anzugreifen, warf sich Kian von hinten
auf seinen Rücken. Brüllend vor Wut versuchte Seth ihn abzuschütteln, doch der
Feach hatte sich so sehr verbissen, dass er es nicht schaffte. Ohne zu zögern,
warf Seth sich auf den Rücken und begrub Kian unter den Massen seines schweren
Körpers. Quiekend versuchte der Wolf sich zu befreien, doch seine Kräfte
erlahmten zu rasch und sein Gegner war einfach zu schwer. Leandriis sah das
Licht in den Augen ihres Gefährten langsam erlöschen. Sie konnte nichts tun,
war wie gelähmt, obwohl alles in ihr danach schrie, ihm zu helfen, doch sie
rührte sich nicht von der Stelle und sah nur hilflos zu, gefangen in der Starre
ihrer Angst. Kian? Kian! Ihr Kopf drohte vor Schmerz zu explodieren als sie
sah, wie eines der Augen von Seth in Blut aufspritzte. Brüllend vor Pein
richtete er sich auf, Kian rutschte einige Meter über den harten Boden und
blieb betäubt liegen. Dann endlich hörte Leandriis das Krachen und fast
zeitgleich riss eine zweite Kugel eine tiefe Wunde in die Brust des Bären. Blut
lief sofort in Sturzbächen durch das filzige Fell und strauchelnd fiel er auf
die Knie. Ein dritter Schuss hallte durch die Luft und endlich erlosch das
Leben in Seth, noch bevor sein Körper schwer aufschlug und leicht zuckend
liegen blieb. Mit letzter Kraft lief Leandriis zu Kian und nahm erleichtert
seinen schwachen Atem wahr, aber auch das Blut und die zahlreichen großen und
kleinen Wunden, aus denen leicht das Leben sickerte. Schluchzend schmiegte sie
sich an seinen Körper und blieb einfach neben ihm liegen, voller Angst um sein
Leben, bis auch sie eine leichte, erlösende Dunkelheit umfing.
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