Kapitel 19 / Tränen des Mondes


Sie wanderten mittlerweile seit Tagen und die fruchtbaren Felder hatten sich in braches Land verwandelt. Starr und anklagend wiesen trockene Baumgerippe in den Horizont. Schwarze, abgebrannte Ruinen säumten ihren Weg. Es war still, so unnatürlich still, dass es Leandriis und Kian in den Ohren wehtat. Nur selten kreuzte ein Lebewesen ihren Weg und noch seltener trafen sie auf Menschen, die in den Ruinen hausten. Auch die nächste Stadt, die die beiden erreichten, war verlassen. Gespenstisch pfiff der Wind durch das zerbrochene Gestein und ließ laut krachend hölzerne Fensterläden an die Mauern stoßen. Fröstelnd und immer wieder zusammen zuckend zog Leandriis ihren verschlissenen Mantel enger um sich, den sie in einer der abgebrannten Ruinen gefunden hatte. Sie wusste nicht warum, aber sie verspürte Angst. Tief sitzende, animalische Angst. Plötzlich blitzten Bilder vor ihren Augen auf und wimmernd fiel sie auf die Knie.
»Lea«, schrie Kian, aber der schrille Schrei drang gar nicht mehr bis zu ihr durch.

Ceri! Der Name bohrte sich in ihr Bewusstsein und ließ eine Explosion voller Schmerzen folgen. Ceri? Wer sollte Ceri sein?
Mühsam erhob sie sich. Ihre Handflächen brannten vor Kälte und jetzt erst registrierte sie wo sie war. Viel hatte sich geändert. Nun, sie war immer noch in der gleichen Stadt, aber scheinbar tief in der Vergangenheit. Die Häuser waren in einem besseren Zustand und wurden dick von einer weichen Federdecke aus strahlendem Schnee zugedeckt. Allerdings war noch immer kein Mensch zu sehen. Leandriis spürte wie sich alle hinter ihren dicken Mauern versteckten. Vor Angst wimmernd, obwohl niemand wusste, woher diese Furcht überhaupt kam. Dunkelheit hatte sich wie Nebel über die einst gut gedeihende Kleinstadt gelegt. Seit, ja seit dieses junge Mädchen aufgetaucht war. Barfuß, mitten im Winter. Wie ein Todesengel sah sie aus. Ihre Haut war bleich, lange schwarze Haare wie Spinnenweben und dunkle, kohlrabenschwarze Augen. Bettelnd hatte sie an die Haustüren geklopft und um Essen und einen warmen Platz zum Übernachten gebeten. Doch niemand wollte sich ihrer erbarmen. Sie alle wichen unwillkürlich vor diesem Mädchen zurück. Etwas war an ihr. Irgendetwas Dunkles. Wimmernd zog sie von Tür zu Tür, doch niemand öffnete ihr. Selbst das Kirchentor blieb ihr verschlossen in dieser unheiligen Nacht. Verschlossen vor einem halbverhungerten, frierenden Mädchen. Dies war die Nacht in der das Böse Einzug in die Herzen der Menschen hielt. Wer so grausam war, ein Mädchen, welches noch dazu schwanger war, in dieser kalten Winternacht dem Tode zu überlassen, sollte nicht mehr Freude empfinden können. Denn Ceri, dies war der Name des Mädchens, war kein normales Mädchen. Uralte Magie war in ihr erwacht. Magie wie sie die Welt seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte und wie sie es eigentlich schon lange nicht mehr geben sollte. Denn alle magiebegabten Wesen waren ausgelöscht worden. Hexen, Elfen, Wölfe. Doch in Ceri hatte ein Funken überlebt und diesen Funken übertrug sie nun in das Herz ihrer ungeborenen Tochter. All ihr Schmerz, ihr Hass, wandelte sich in einen dunklen Strudel voller Schwärze und Macht. So wurde bereits vor Leandras Geburt die Gabe der Feach in ihre Seele gelegt, die später Verderben über das Leben der Menschen bringen sollte. So wurden die Feach geschaffen, in ihrer Ursprungsform. Lange bevor das dunkle Zeitalter überhaupt erwacht war.

Keuchend erwachte Leandriis aus ihren Gedanken als Kian ihr ins Gesicht schlug. Schuldbewusst sah er sie aus seinen schokoladenbraunen Augen an und biss verlegen auf seiner Unterlippe herum, aber er hatte sich nicht mehr anders zu helfen gewusst.
»Ich - Lea, es tut mir Leid«, brach es aus ihm heraus. Doch das Mädchen schüttelte nur den Kopf.
»Hier hat es angefangen«, flüsterte sie nur.
»Was hat hier angefangen? Leandriis?«
»Das Böse!« Leandriis richtete sich bei den Worten auf und blickte durch das Ruinendorf, ihre langen braunen Haare wirbelten um sie herum. Kian betrachtete sie irritiert, er verstand nicht was sie meinte, aber er merkte, dass Leandriis sich plötzlich verändert hatte. Sie wirkte aufrechter, stärker. Als hätte sie etwas verstanden. Leandriis richtete ihre grünen Augen auf Kian und blickte mitten durch ihn hindurch in seine Seele.
»Wenn es hier angefangen hat, wird es vielleicht auch hier enden«, meinte Leandriis. »Vielleicht ist unser Ziel näher als wir dachten. Kian, ich wollte das alles nie.« Tränen traten ihr in die Augen und von einem Augenblick zum anderen wurde sie wieder zu der Leandriis, die er kannte.
»Ich bin nur ein kleines Mädchen, ich kann nicht das Überleben eines ganzen Volkes sichern.« Kian trat zu seiner Freundin und nahm sie sanft in seine Arme.
Leise flüsterte er in ihr Ohr: »Ich bin bei dir! Jederzeit! Du wirst niemals alleine sein. Ich weiß, dass das alles zu groß für dich erscheint, aber du kannst das schaffen. Wer, wenn nicht du?«, fragte er sanft und strich ihr mit einem schelmischen Lächeln eine Strähne hinters Ohr. Beide waren sich so nahe. Sie konnten den jeweils anderen Atem auf der Haut spüren und es kribbelte leicht in Leandriis Bauch, als Kian plötzlich aufkeuchte und sich seine Augen vor Entsetzen weiteten. Seine rechte Hand fuhr nach oben zu seiner Schulter und umklammerte die Pfeilspitze, die dort plötzlich heraus ragte. Leandriis starrte wie gelähmt auf die Stelle, während Kian sie geistesgegenwärtig zur Seite stieß und sich schwer atmend der Straße zuwandte auf der sich eine humpelnde Gestalt näherte. Als sie nah genug heran gekommen war, dass sie ein Gesicht erkennen konnten, zogen beide Feach entsetzt die Luft ein.

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