Kapitel 18 / Tränen des Mondes


»Claire«, Seths kalte Stimme holte sie aus ihren Gedanken. Seth seufzte als er in Claires tiefblaue Augen schaute und die Antwort lesen konnte, die Antwort, die er nicht hatte hören wollen.
»Die Wolfsjagd ist beendet! Seth, diese Kinder sind nicht für die Taten ihrer Vorfahren verantwortlich. Sieh sie dir an!«, bat Claire und sah ihren Mann eindringlich an. Unwillig wandte sich Seth den beiden Feach zu. »Sie sind Kinder, beide bei den Menschen aufgewachsen, sie wissen doch gar nicht, welche Macht sie haben. Wie könnten sie sein wie … die anderen damals?«
»Und weil sie nicht wissen, welche Macht sie haben, sind sie gefährlicher als all jene damals, Claire. Was, wenn das Monster aus ihnen herausbricht und sie morden ohne es zu wissen. Tiere reißen, Menschen verletzen. Nein Claire, das lasse ich nicht zu!« Mit brennendem Hass in den Augen drehte er sich zu Kian und Leandriis um, beide erstarrt vor den geifernden Hunden viel zu nah vor ihnen. Kian überlegte fieberhaft, aber selbst mit Claire auf ihrer Seite hatten sie keine Chance. Nicht gegen Seth und die vier Hunde gleichzeitig. Doch dann passierte etwas Seltsames …

… Nebel kam auf und hüllte die Lichtung in eine undurchdringliche Decke.
»Schwester«, Zooey blickte Claire an und lächelte.
»Zooey? Aber wie, wie ist das möglich? Du bist tot!« Bleich, zitternd und mit Tränen in den Augen starrte Claire ihre Schwester an.
»Ich bin nur eine Erinnerung, Schwester, um diesen beiden jungen Hoffnungen in ihrer Not zu helfen. Aber es ist schön, dich zu sehen. Du bist so erwachsen geworden, so wunderschön. Nur leider kann ich nicht länger bleiben. Schwester, besinne dich. Lebe deine Träume.« Damit verschwand Zooey und nur eine neblige Wolke blieb zurück, die sich um die vier Höllenhunde sammelte und sie scheinbar hypnotisierte. Wohlig brummend schlossen diese ihre Augen, streckten sich auf dem weichen Moosboden aus und träumten mit zuckenden Ohren vor sich hin. In dem Moment kam Seth wieder zu sich.
»Was zum Teufel geht hier vor? Ihr seid doch alle verflucht!« Keine Sekunde später schrie Claire den Feach zu, dass sie rennen sollten, so schnell sie nur konnten und Kian zögerte keinen Sekundenbruchteil, fasste nach Leandriis Hand und rannte los, das Mädchen hinter sich her ziehend. Leandriis, die einen Moment länger als Kian zu Claire blickte, sah wie diese sich zu verändern schien. Ihre Nase wurde spitzer, ihre Zähne länger, pelzige Ohren stoben aus ihren Haaren. Mit Entsetzen verfolgte sie diese Verwandlung, als Kians Hand sie unsanft weg zog und sie den Blickkontakt verlor. Das letzte was die beiden auf ihrer halsbrecherischen Flucht hörten, war das schreckliche Geräusch von zerreißendem Stoff und brechenden Knochen.

Lange Zeit liefen sie einfach weiter. Seite an Seite. Meile für Meile. Ein Schritt nach dem anderen. Schweigend. Irgendwann, es mussten bereits Stunden vergangen sein, verlangsamten beide wie auf Befehl gleichzeitig ihren Schritt und blieben schließlich stehen. Sie hatten den Waldrand erreicht und standen nun an den Ausläufern riesiger, weiter Felder voller gelb blühender Blumen.
»Lea«, Kian wandte sich an seine Freundin und erstarrte. Leandriis stand zitternd neben ihm, sie hatte den Kopf so gesenkt, dass ihre langen braunen Haare ihr Gesicht bedeckten und trotzdem konnte Kian die Tränen sehen, die ihr die Wange herunterliefen.
»Lea, hey«, sanft nahm er sie in den Arm und strich ihr über den Rücken. Lange hielt er sie so fest, während sie ihrer Verzweiflung freien Lauf ließ. Es dauerte lange, bis ihr Atem sich beruhigte und ihre grünen Augen nicht mehr feucht glänzten und doch, Kian genoss es, ihren Körper so nah bei sich zu haben. Den Duft ihrer Haare einzuatmen, diesen tollen Geruch nach frischen Tannennadeln. Gleichzeitig schämte er sich, ihre Trauer dermaßen auszunutzen, doch wünschte er sich kaum etwas mehr als Leandriis. Als sie sich schließlich sanft aus seiner Umarmung löste, konnte er ein kleines unwilliges Stöhnen nicht unterdrücken. Dann jedoch schaute sie ihn an und dieser Blick aus ihren moosgrünen Augen fraß sich tief in sein Herz und ließ es so schnell schlagen,  dass er dachte, es würde ihm jeden Moment aus der Brust springen. Leandriis, schwor er sich in Gedanken, ich werde dich mit meinem Leben beschützen, denn du bist mein Paradies.
Nach einer kurzen Rast liefen sie weiter. Sie wollten diese unendlichen Felder so schnell wie möglich hinter sich lassen, denn sie boten kaum Schutz. Keiner von beiden wollte darüber nachdenken, was mit Seth und Claire geschehen war, doch die nervenzerfetzenden Laute bei ihrer Flucht hatte keiner vergessen. Sie gruben sich tief in ihre Köpfe und ihre Herzen und ließen dunkle Vorahnungen entstehen. Sie konnten nicht wissen, ob der eine oder andere ihnen vielleicht doch noch folgen würde, oder ob Claire ihre Meinung wieder geändert hatte und ihnen die Schuld an allem was passiert war gab. Kian und Leandriis waren sich nur eines gewiss: Nichts schien in ihrem Leben mehr sicher zu sein.
Bei Einbruch der Dunkelheit rasteten sie unter einem ausladenden Apfelbaum, der sich irgendwie sein Territorium mitten in den Feldern erkämpft und verteidigt hatte. Vollkommen erschöpft pflückten sie ein paar der roten Äpfel und ließen sich auf den steinharten Boden nieder. Noch bevor beide den Kopf auf den Boden sinken ließen, waren sie schon fast tief und fest eingeschlafen und wurden nur noch einmal wach, als ein roter Fellbausch aus dem hohem Weizen hervor geschossen kam und auf Leandriis´ Schoß sprang.
»Tamzin, du feiger Flohball, wo warst du die ganze Zeit?« Schnurrend rieb sich die Katze an Leandriis´ Schulter und rollte sich zu einer Kugel zusammen ohne Leandriis oder Kian noch eines Blickes zu würdigen und schnurrte selig schlafend auf Leandriis Schoß.

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