Kapitel 14 / Tränen des Mondes
Leandriis
seufzte. Seit bereits zwei Stunden stand sie fröstelnd im Wald dieser
mondbeschienenen Nacht und suchte Kräuter mit Rajael. Heute war die erste Nacht
des abnehmenden Vollmondes und somit die beste Zeit für bestimmte Pflanzen, die
Rajael sammeln wollte. Eigentlich gab es immer irgendwelche besonderen Zeiten
für irgendwelche bestimmten Pflanzen, wenn sie es genau bedachte. Leandriis
seufzte ein weiteres Mal, sie langweilte sich. Sie fand es ermüdend, nachts
durch den Wald zu laufen und mit begrenztem Licht irgendwelche bestimmten
Gewächse zu erkennen, die für sie alle gleich aussahen. Rajael dagegen war mit
Feuereifer dabei und befand sich in bester Laune und genau in ihrem Element.
Ihre roten Haare flatterten leicht im Wind und mit der Bewegung ihrer tanzenden
Schritte.
»Los,
los Leandriis, keine Müdigkeit vorschützen.« Wiederholt seufzte Leandriis, sie
konnte sich einfach nicht für die Pflanzen und Heilmittel begeistern. Seit fast
einem Jahr war sie nun an Rajaels Seite und es wollte ihr einfach nicht
gelingen ein wenig Interesse zu entwickeln. Eine Tatsache jedoch, die Rajael
nicht davon abhalten konnte, mit umso mehr Begeisterung Leandriis an ihrem
Wissen teilhaben zu lassen. Leandriis mochte Rajael und sie genoss ihre
Gesellschaft und das Interesse, die diese ihr zukommen ließ, aber mehr auch
nicht.
Stundenlang,
jeden Tag, versuchte Rajael Leandriis ihr Wissen über Pflanzen beizubringen,
doch alles was sie lernte, hatte sie am nächsten Tag auch schon wieder
vergessen. Es brachte einfach nichts. Leandriis half ihr so gut sie konnte,
aber ohne fundiertes Wissen war das nicht unbedingt leicht. Hinzu kam, dass ihr
die Dorfbewohner misstrauten. Eine Tatsache, die Leandriis noch von früher
kannte, sie jedoch trotzdem mitnahm. Sie war hier neu und sie hatte sich
bemüht, aber alle brachten ihr nichts als kühle Abneigung entgegen. Bis auf
Kian. Ein leichtes Lächeln glitt über Leandriis Züge. Jede Woche kam er
mindestens einmal her um sie zu besuchen. Und diese Stunden, nur für sie beide,
waren das Schönste für Leandriis. Rajael hatte zum Glück nie Einwände und
entließ das Mädchen immer von ihren Pflichten sobald der übermütige Junge in
die Hütte gestürmt kam. Im Gegenteil, Rajael genoss die frische Liebe der
Beiden und zehrte an den Glücksgefühlen, denn sie hatte ein Geheimnis. Es gab
einen Grund, warum Rajael ausgerechnet Heilerin geworden war und mit Kräutern
arbeite, denn sie lebte und zehrte von den Gefühlen anderer. Die düsteren,
kranken, ängstlichen Gefühle ihrer Patienten waren nicht so voller Kraft wie
die der Liebenden, aber sie wollte sich nicht als Dieb fühlen und bediente sich
nur der schlechten Emotionen. Doch Leandriis und Kian hatten so viele gute
Schwingungen, dass Rajael einen kleinen Teil davon genießen konnte, ohne sich
schlecht fühlen zu müssen, ohne sich als Dieb zu fühlen. Doch dies war nicht
immer so gewesen …
Rajael lief mit nackten Füßen durch mit
Glasscherben bedeckte Straßen. Scharf schnitten ihr die Kanten in die weiche
Haut und rote Rinnsale von Blut liefen daran hinab. Doch sie nahm es kaum wahr
und rannte einfach weiter. Hinter sich konnte sie die wütende Meute hören, die
ihr hinterher hetzte. Angst durchzuckte sie und ließ sie schneller laufen,
immer schneller und schneller und weiter. Völlig planlos rannte sie durch die
dreckigen, ihr völlig unbekannten Straßen und helle Tränen der Verzweiflung
rannen ihr blasses, mit Ruß beschmiertes Gesicht hinab. Blind vor lauter Wut
und Unverständnis bemerkte sie zu spät, dass ihr jemand in den Weg trat und
lief mit voller Wucht in die Gestalt hinein.
»Na, na, wer hat es denn hier so eilig?« Die
Stimme war warm und schien den sanften Geschmack von Honig zu haben. Tief sog
sie den Klang in sich auf und schaute nach oben, um direkt in bernsteinfarbene
glitzernde Augen zu blicken.
»Ich, äh«, stammelte Rajael, als hinter ihr das
Geschrei lauter wurde. Panisch wand sie sich und wollte durch seine Arme
hindurchschlüpfen, doch er hielt sie eisern fest. Mit hochgezogenen Augenbrauen
warf er einen Blick hinter sie.
»Ah, ich verstehe schon. Komm!« Mit harter Hand
griff er nach ihrem Arm und zog sie hinter sich her. In einer dunklen Nische
zwischen den Häusern blieb er stehen und drängte sie an die kalte, steinerne
Häuserwand. Kurz versteifte sie sich, als er seinen Körper an ihren presste und
sie sanft küsste.
»Beruhige dich, meine Schöne«, flüsterte er ihr
sanft ins Ohr. Dann war die Meute bei ihnen. Und … im gleichen Atemzug war sie
vorbei. Rajael entspannte sich allmählich als der Lärm in der Ferne verklang.
»So ist es gut«, wisperte der geheimnisvolle
Fremde an ihrer Seite. Er löste sich von ihr und ließ nur seine Hand an ihrer
glühenden Wange liegen.
»Danke«, Rajaels Stimme verklang leise auf
halben Weg.
»Ach einer schönen Frau in Notlage kann ich doch
niemals widerstehen«, warm wie Honig tröpfelte seine Stimme auf sie nieder.
Rajael schnaubte unwillig, bevor sie sich aus seiner Umarmung wandte und einige
Schritte zur Seite trat.
»Ich, ich sollte jetzt gehen.«
»Aber nicht doch«, er ergriff ihren Arm und zog
sie zu sich zurück. »Du solltest momentan nicht alleine in der Stadt
herumlaufen. Komm mit zu mir, dort bist du für heute Nacht sicher.« Rajael
sträubte sich, der Schreck, die Angst, saßen noch zu tief in ihren Knochen.
»Komm, meine kleine Schönheit, ich tue dir
nichts. Versprochen.« Nur zu gern ließ sich Rajael von ihm einnehmen und Stück
für Stück bröckelte ihre Entschlossenheit, sich nicht von ihm überreden zu
lassen, aber insgeheim wusste sie, dass sie bereits verloren hatte. Mit jedem
honigsüßen Wort, welches über seine Lippen kam, wurde sie tiefer und tiefer in
seinen unwiderstehlichen Sog gezogen und schließlich nickte sie matt.
Sie blieb nicht nur die Nacht bei Jonah, wie
sich der Fremde nannte, sondern die nächsten drei Jahre. Nicht in dieser Stadt,
sondern auf Reisen, jede Nacht woanders, damit ihre geheimnisvolle Gabe sie
nicht in Schwierigkeiten brachte. Eine Gabe, gegen die Jonah immun zu sein
schien. Rajael blühte in dieser Zeit geradezu auf. Sie verlor ihre Furcht vor
ihren Mitmenschen und lernte durch Jonah den Umgang mit ihrem Fluch um den
Menschen nicht ohne Grenzen ihre Kraft abzuziehen, sondern nur das Nötigste zu
nehmen. Und sie entdeckte ihre Leidenschaft für die Heilkunst. Kräuter und
Pflanzen wurden zu ihrer Berufung, wobei sie nicht merkte, dass Jonah sich mehr
und mehr von ihr zurückzog. Bis er sie eines Tages verließ. Ohne ein Wort des
Abschiedes, ohne irgendeine Erklärung, war er einfach verschwunden.
Rajael weinte um ihren verlorenen Freund, doch
sie nahm sein Geschenk dankend an. Er hatte ihr gezeigt wie sie leben konnte.
Leben, ohne die Menschen in ihrer Umgebung umzubringen. Ohne Angst und Furcht.
Ohne Hass. Rajael war angekommen und sie blieb. Blieb bis heute an diesem Ort,
wo ihr Leben neu begonnen hatte. Und wo ihr nun Leandriis begegnet war.
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