Kapitel 13 / Tränen des Mondes


So vergingen die ersten vier Wochen. Leandriis hatte nicht viel zu tun und durchstreifte die Gegend, meistens um Claire aus dem Weg zu gehen, aber auch um die quälende Langweile zu bekämpfen. Kian wurde mit Arbeit überschüttet und hatte meist nur in den abendlichen Dämmerstunden für sie Zeit, wenn er sich in ihr Zimmer schlich. Dort saßen die beiden still schweigend nebeneinander auf dem Fensterbrett und sahen nach draußen. Es war ein angenehmes Schweigen, in beiderseitigem Einverständnis. Leandriis fand jedoch nur in diesen rituellen Abendstunden ihre Ruhe, den Rest des Tages war sie von einer inneren Anspannung erfüllt, die sie nicht still sitzen ließ. Nachts durchlebte sie wieder und wieder die gleichen Albträume, an die sie sich morgens nicht mehr erinnern konnte. Sie wurde von einer Müdigkeit heimgesucht, die sie nur schwer in Worte fassen konnte. Die einzige Gesellschaft leistete ihr neben Kian eine große, rote Katze. Majestätisch folgte sie Leandriis auf ihren Streifzügen und schlief nachts neben ihrem Bett. Nie wich sie auch nur einen Millimeter von ihrer Seite und letztendlich gab auch Claire seufzend auf, die Katze Tag für Tag, Stunde um Stunde, aus dem Haus treiben zu wollen.
Ansonsten gingen die Tage aber ereignislos vorbei, sie kannte bald jeden Stein, jeden Baum und jedes Tier in der Umgebung und auch Rajael hatte sie mittlerweile ein paar Mal getroffen. Sie mochte die junge Frau, die sie behandelte als wäre sie ihre beste Freundin. Immer hatte sie ein Lächeln für Leandriis parat und gab ihr ein gutes Gefühl, dass sie nicht ganz alleine und verloren war, wenn Kian keine Zeit für sie hatte. Trotzdem fühlte Leandriis wie die Langeweile sie nach und nach zerfraß.

Eines stillen Abends, Kian und Leandriis saßen wieder auf ihrem Stammplatz am Fenster, richtete sich Tamzin buckelnd auf und fauchte die Tür an, an der es wenige Sekunden später klopfte.
»Lea? Ich muss mit dir reden««, erklang Claires Stimme gedämpft durch die dicke Eichenholztür. Kian sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, sprang mit einem Satz auf die Füße um zur Tür zu stolzieren und sie aufzureißen. Claire wich erschrocken zurück und Kian konnte sich ein fast schon boshaftes Grinsen nicht ganz verkneifen, als er an ihr vorbei in den Flur ging und auf leisen Sohlen in seinem eigenen Zimmer verschwand, die Tür lautstark hinter sich zuknallend. Einen Moment lang sah Claire ihm stirnrunzelnd nach bis sie ihre Fassung wieder gewann und zu Leandriis in das kalte Zimmer trat.
»Oh Gott Lea, mach das verdammte Fenster zu«, schnaubte sie und rieb sich die Arme um ein Zittern zu unterdrücken. Mit einem Seufzen schloss Leandriis die mit Schneeblumen überzogene Fensterscheibe und sah Claire fragend an.
»Lea, du bist jetzt lange genug hier und du brauchst eine Aufgabe«, begann Claire. »Und auf dem Hof gibt es leider viel zu wenig Arbeit, ich kann dich hier nicht beschäftigen, daher kannst du auch nicht hierbleiben! Allerdings hat Rajael sich angeboten, dich bei ihr aufzunehmen. Sie braucht jemanden, der ihr zur Hand geht und sie scheint davon überzeugt zu sein, dass du die richtige dafür bist.« Claire hielt inne, was Leandriis die Möglichkeit bot, selbst das Wort zu ergreifen.
»Du willst mich also loswerden?«, stellte Leandriis trocken fest.
»Um Gottes Willen Lea, natürlich nicht. Aber der Hof wirft einfach nicht genug Arbeit ab, um dich ebenfalls zu beschäftigen und Rajael kann wirklich gut eine Hilfe gebrauchen und außerdem bist du doch immer noch in der Nähe. Du und Kian, ihr könnt euch regelmäßig sehen und du kannst dir vielleicht ein neues Leben aufbauen«, Claires Stimme brach kurz. »Auch wenn das alles natürlich nicht leicht ist, nachdem … nachdem alles noch so frisch ist.«
»Wann soll ich gehen?«, antworte Leandriis bissig. Zerknirscht zog Claire ihre Stirn kraus.
»Bereits morgen.« Leandriis Augen weiteten sich überrascht, doch schließlich nickte sie.
»Gut, wenn es das ist was ihr wollt.« Claire strich ihr sanft über die Haare und Leandriis biss die Zähne zusammen um nicht sofort vor ihr zurückzuweichen wie sie es am liebsten getan hätte. In ihrem Magen brannte ein kleines Gefühl von Hass. Doch sie unterdrückte alles und atmete tief durch.
»Ich weiß, dass das alles schwer für dich ist. Erst das Unglück deiner Familie und kaum hast du dich hier eingelebt, schicke ich dich auch schon wieder weg, aber du kannst hier nicht bleiben. Es tut mir wirklich leid, selbst wenn ich wollte, du kannst nicht hier bleiben!« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zur Tür, wandte sich dort jedoch noch einmal um.
»Lea.« Diese blickte auf, ihre grünen Augen voller Enttäuschung. »Du kannst die Katze mitnehmen, Rajael hat nichts dagegen und sie wird dir ja sowieso folgen.« Leandriis nickte und drehte sich wieder zum Fenster. Die Stirn gegen das kalte Glas gepresst. Seufzend verließ Claire den Raum und sobald ihre Schritte am unteren Ende der Treppe verklungen waren, stand Kian neben Leandriis und nahm sie sanft in seine Arme.
»Du hast alles gehört«, fragte sie leise.
»Ja«, aufmunternd drückte er sie noch einmal an sich. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde, zumindest den Winter über hätte ich gewettet, dass sie dich hier behält. Aber ich verspreche dir, ich werde so oft zu dir kommen wie ich kann, um dich zu besuchen, mindestens einmal in der Woche!« Leandriis lächelte und ein warmes Gefühl durchdrang ihr Herz.
»Danke Kian.« Er lächelte ebenfalls und strich ihr sanft durch das dunkelbraune Haar.
»Nicht dafür! Du bist mir so wichtig! Niemals hätte ich gedacht, dass ich jemanden wie dich, wie mich, treffe und ich werde dich nicht mehr einfach so gehen lassen! Niemals mehr!« Leandriis erschauderte unter seinen Worten und schmiegte sich fest an seinen weichen, warmen Körper, bis sie einschlief.

Am nächsten Morgen brach sie bereits nach dem Frühstück auf. Ihre wenige Habe hatte sie in einem Leinenbeutel verstaut und Tanzim folgte ihr trippelnd. Es schien als hätte die rote Katze ganz genau verstanden, dass sie ebenfalls dieses Haus verlassen musste und lieber mit Leandriis mitging als sich auf dem Hof rumzutreiben. Schräg vor den beiden lief Kian, der die Aufgabe übernommen hatte, Leandriis wohlbehalten zu Rajael zu bringen. So stiefelte die Dreiergruppe durch den leisen verschneiten Morgen und ließen das Farmhaus bald hinter sich, wo Claire am Fenster stand und zu ihnen hinunter sah. Ihre blauen eisigen Augen leuchteten und als ihr Mann sich hinter sie stellte, zuckte sie nicht einmal zusammen.
»Du lässt sie gehen, Claire? Warum? Sie ist eine von ihnen, und du weißt was wir zu tun geschworen haben!«
»Sie ist noch so jung und sie weiß es nicht mal, weiß nicht, was sie ist.«
»Und?«, unterbrach ihr Mann sie ruppig. »Auch die kleinsten Welpen werden irgendwann groß! Wir sollten unsere Chance nutzen und sie gleich unschädlich machen.«
»Nein«, fauchte Claire und schüttelte entschlossen den Kopf. »Noch nicht, die Zeit ist noch nicht gekommen.« Mit diesen Worten sah sie ihren Mann scharf an und benommen hielt er sich den Kopf.
»Claire?«
»Erinnere dich nicht an dieses Mädchen, vergiss sie«, flüsterte sie leise und bestimmend. Ihr Mann blinzelte ein paar Mal, dann ging er ohne ein weiteres Wort aus dem Raum.
»Auf dich wartet eine Aufgabe kleines Mädchen, viel Erfolg.«

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