Kapitel 12 / Tränen des Mondes


Leandriis erwachte mit der Morgendämmerung. Es war noch dunkel, eisige Luft zog durch den offenen Spalt am Fenster herein und ließ sie unter ihrer Decke frösteln. Doch auch die Minusgrade in ihrem Zimmer konnten das warme Gefühl in ihrem Herz nicht vertreiben, das Gefühl, endlich angekommen zu sein, nicht mehr alleine zu sein. Mit einem Lächeln sprang sie auf, als ein stechend scharfer Schmerz durch ihren Kopf schoss und sie stöhnend auf die Knie fallen ließ. Verkrampft glitten ihre Hände über den glatten Holzboden und ihre Fingernägel hinterließen tiefe Furchen in diesem. Dann war es vorbei, genauso schnell wie es gekommen war. Vorsichtig erhob sie sich und setzte sich auf die Bettkante. Tief sog sie die eiskalte Luft in ihre Lungen und versuchte sich zu entspannen. Noch während sie grübelnd da saß, wurde die Tür aufgerissen, knallte gegen die Wand und ein grinsender Kian strahle sie aus braunen Augen freudig an.
»Kian«, Leandriis konnte nicht anders und musste ebenfalls lächeln. Dieser Junge zog sie an, ließ in ihrem Inneren heiße kribbelige Seifenblasen platzen und sie strahlen.
»Los aufgestanden, ich will dir heute alles zeigen.« Kian zog sie hoch und aus dem Zimmer. Im Gegensatz zu diesem war das Haus geheizt und der Duft von knisternd verbrennenden Kienäpfeln zog durch die Flure. Kurz vor der Haustür wurden sie jedoch von Claire gestoppt.
»Halt, halt, ihr Beiden. Bevor es rausgeht, gibt es erst einmal Frühstück.« Herzlich, aber auch ohne Nachgiebigkeit zitierte sie die Beiden in die große Wohnküche und stapelte allerlei Essen auf Leandriis´ Teller, dass sie nicht wusste, wie sie das alles alleine schaffen sollte. Doch wie sich herausstellte, hatte Leandriis mehr als genug Hunger und zum Schluss half ihr Kian noch ordentlich, nachdem er seine Portion bereits vertilgt hatte. Lächelnd und mit einem wohligen Gefühl lehnte Leandriis sich zurück und spürte Kians Wärme dicht neben sich. Lange ließ Kian sie jedoch nicht gewähren, voller hibbeliger Aufregung zog er sie in die Höhe und Richtung Hausflur.
»Komm endlich, ich will dir alles zeigen, schließlich wirst du noch eine Weile bei uns bleiben. Zumindest…«, er warf Claire einen vagen Blick zu. »Vorerst.« Kurz nur blitzte Kians Unsicherheit aus seiner heiteren Miene, dann hatte er sich sofort wieder im Griff, tastete nach ihrer Hand und zog sie hinaus in die eisige Kälte. Schneidend blies der Wind in ihr Gesicht und zerzauste ihre lange Haarmähne. Schnell streifte sie sich Mütze und Handschuhe über und folgte Kian in die glitzernd weiße Welt hinaus. Kaum ein Geräusch war zu hören, alles war eingehüllt in eine dicke Schneedecke und schien tief zu schlafen. Selbst der Wind pfiff gespenstisch leise durch die Bäume. Staunend sah sie sich um. Der Hof lag auf der anderen Seite des Waldes, den sie noch nie ganz durchquert und somit nie den Hof erreicht oder gesehen hatte. Das große, alte Farmhaus erhob sich dunkel vor dem dichten Wald, der sich bereits nach wenigen Metern in tiefer Dunkelheit verlor. Neben dem Wald glitzerte ein kleiner, zugefrorener See, der den direkt anschließenden Weiden als natürliche Tränke diente. Die Weiden waren momentan jedoch bis auf einige wenige zottelige Ponys komplett leer. Weiter entfernt im Stall konnte Leandriis einige Kühe muhen hören, irgendwo gackerten ein paar Hühner und auch der Geruch nach Schweinen wehte zu ihr herüber. Einige Hunde kamen freudig bellend aus dem Wald gelaufen, jagten voller Übermut ein kleines Kaninchen, ließen aber sofort von ihm ab, als Kian einmal laut durch die Zähne pfiff und rasten auf die beiden Menschen zu. Laut bellend und hechelnd drehten sie eine Runde nach der anderen um die beiden, bis sie wie auf ein unsichtbares Zeichen auseinander stoben und wieder in den Wald eintauchten.
»Tja«, begann Kian. »Dies ist also unser Hof. Claire wird dich sicherlich auch bald zur Arbeit einteilen, aber du kannst mich immer fragen, wenn du etwas wissen willst. Und jetzt muss ich dir noch jemanden vorstellen.« Widerstandslos und staunend ließ Leandriis sich mitziehen, als Kian einen Weg hinter dem Haus einschlug, der nach wenigen Metern im Wald begann und kurz darauf auch schon wieder mit einer scharfen Rechtskurve hinaus führte. Auf einer kleinen Anhöhe blieben sie stehen und es verschlug Leandriis glatt die Sprache. Dort war ein kleines Dorf, ein Dorf, so nah an ihrem früheren Zuhause, von dem sie nie etwas geahnt hatte. Qualm stieg aus einigen Schornsteinen hervor. Kinder liefen im Schnee umher, bewarfen sich mit unzähligen Schneebällen und lachten ausgelassen miteinander. Irgendwo bellte ein Hund.
»Das, das ist unglaublich.«
»Ja, nicht wahr? Und jetzt komm mit, ich mag dir jemanden vorstellen.« Immer noch staunend folgte Leandriis Kian ins Dorf und war sich all der Blicke bewusst, mit denen die Dorfbewohner sie anstarrten. Es war unangenehm, aber was sollte sie tun, also folgte sie Kian stillschweigend durch das Geflecht von einfachen Gassen, die sich um die Häuser schlängelten und sie tiefer hinein führten. Endlich blieb Kian stehen, ein Lächeln umspielte seine Lippen, als er an die grün gestrichene, vom Wind und Sand der Zeit verwitterte, Tür klopfte. Nach kurzer Zeit kam ein leises, schnarrendes Geräusch, das Kian wohl als Zustimmung wertete und ins Haus eintrat. Sofort nahm Leandriis den intensiven Geruch nach den unterschiedlichsten Kräutern und Pflanzen wahr, zudem war es dunkel und stickig. Egal was Leandriis erwartet hatte, als die Bewohnerin aus dem Schatten auf sie zu trat, dies jedenfalls war es nicht. Die junge hübsche Frau, die sich als Rajael vorstellte, hatte flammend rotes Haar und dunkle, fast schwarze Augen, aus denen eine Weisheit sprach, die ihr jugendliches Aussehen Lügen strafte.
»Lea, oder bevorzugst du Leandriis? Nein, Lea also, das dachte ich mir.« Ein sanftes Lächeln folgte ihren Worten. »Du bist also das Mädchen, von dem Claire mir erzählt hat. Ich bin froh, dass es dir besser geht. Allein davon wollte ich mich überzeugen, aber du scheinst von mir nichts mehr zu brauchen, du bist so gesund wie es sich für ein junges Mädchen gehört.« Ein herzliches Lachen folgte ihren Worten und untermalte den Klang nach Honig in ihrer Stimme. Sofort fühlte sich Leandriis geborgen. Diese Frau, so unbekannt sie ihr auch war, weckte in ihr ein Gefühl, sicher und wohlbehütet zu sein.
»Geht zurück«, wandte sie sich an Kian. «Momentan ist hier nicht der richtige Ort für euch! Aber«, damit wandte sie sich an Leandriis: »Wir werden uns bald wiedersehen!« Damit trat Rajael in die Schatten ihrer Hütte und ließ die beiden Freunde alleine im Dampf des wabernden Lichtscheins stehen. Kian ergriff Leandriis Hand und zog sie mit sich hinaus.
»Das war seltsam«, bekannte Leandriis und blickte nachdenklich zurück.
»Stimmt, aber sie ist immer so. Du wirst dich daran gewöhnen, wenn du mehr mit ihr zu tun hast, vielleicht aber auch nicht. Lass uns zurückgehen, ich muss noch meine Arbeiten verrichten, bevor Claire mir den Hintern versohlt.« Beide mussten lachen und liefen geschwind und voll guter Laune zurück zum Gutshof.
Während Kian seine Arbeit verrichtete, saß Leandriis mit untergeschlagenen Beinen im Heu und beobachtete ihn unverhohlen. Seine Haare erinnerten sie an das Fell des Wolfs aus ihrem gestrigen Traum und auch so strahlten Kian und das Tier eine gemeinsame Lebensfreude aus, so dass es nicht schwer zu erraten war, dass beide ein Erbe teilten. Leandriis lächelte. Sie fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich wohl und genoss das Zusammensein mit jemand anderem. Auch wenn sie sich erst seit Kurzem kannten, verband die beiden ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und so schnell wollte Leandriis daran auch nichts ändern. Mitten in ihren Gedanken sah Kian auf und warf ihr einen Blick und ein sanftes Lächeln zu, aus dem so viel Wärme sprach, dass es Leandriis mitten ins Herz traf.

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