Kapitel 8 / Tränen des Mondes
Sie
schlug die Augen auf, um sie herum war alles still. Instinktiv spürte sie, dass
es Nacht war und jemand sie mit blitzenden Augen anblickte.
»Cassian«,
flüsterte sie.
»Ja
Leandriis, dies ist mein Name. Mein wahrer Name.« Seine grauen Augen, voller
Traurigkeit, schienen tief in ihre Seele zu blicken.
Draußen
splitterte etwas. Erschrocken zuckte sie zusammen. Cassian schien äußerlich
ganz ruhig, nur in seinen Augen flackerte kurz so etwas wie Furcht auf.
»Was
geht hier vor, Cassian?« Leandriis spürte das erste Mal wirkliche Angst in
ihrem Leben und es gefiel ihr ganz und gar nicht. Wiederholt splitterte etwas
und Leandriis Augen wanderten zu dem einzigen großen Fenster, hinter dem die
Finsternis lauerte.
»Hab
keine Angst Leandriis, dort draußen ist nichts, wovor du dich fürchten
müsstest.« Ihre grünen Augen verzogen sich zu Schlitzen und verärgert sah sie
ihn an.
»Warum
sagst du mir, dass dort nichts ist, was ich fürchten müsste, währen deine Augen
sagen, dass du Angst um mich hast?« Cassian sah sie einige Momente ausdruckslos
an, bevor er anfing zu lächeln.
»Was?«,
fauchte sie nun ungehalten.
»Ich
hätte nicht gedacht, dass mich nochmal jemand auf diese Weise durchschaut.«
Leandriis legte ihren Kopf leicht schief, sah ihn einfach nur an,
verständnislos. Sein Lächeln verblasste, als etwas gegen die Tür hämmerte.
»Cassian«,
flüsterte Leandriis mit Angst in der Stimme. Der alte Mann sah sie an und dann
geschah etwas Außergewöhnliches. Blaues sanftes Licht umfloss seinen Körper und
breitete sich in dem kleinen Raum aus. Gebannt sah Leandriis zu und fühlte ein
eigenartiges Kribbeln in der Magengegend. Alle Geräusche verstummten und auch
Leandriis ergriff eine eigenartige Ruhe.
»Wer
war diese Frau in meinem Traum«, fragte sie in die Stille hinein. Mit Schmerz
in den Augen sah sie der alte Mann an und wieder wurde Leandriis sich bewusst,
um wie viele Jahre der Mann in den letzten paar Tagen gealtert zu sein schien.
Nicht, dass er vorher nicht schon reich an Jahren gewesen wäre, aber niemals
sah er so krank und greisenhaft aus wie jetzt. Etwas schien an seiner Kraft
gezehrt und ihm alle Lebensenergie ausgesaugt zu haben.
»Ich
werde dir meine Geschichte erzählen, weil dies wahrscheinlich die letzte
Gelegenheit dafür sein wird.« Leandriis sah ihn entsetzt, aber keinesfalls
überrascht an. Cassian lächelte schmerzlich.
»Es
begann an einem Tag im Winter …«
… Ich hatte wirklich alles versucht, aber ich
kam zu spät. Meine ganze Familie war ausgelöscht und nur Leandra war noch übrig
geblieben. Sie hatten alle getötet. Nein, nicht nur getötet. Sie haben meine
Familie niedergemetzelt, niedergemetzelt wie die Tiere. Nur Leandra war noch
da. Hockte in einer Ecke und vergrub sich in sich selbst. Sie war anders. Am
schlimmsten waren ihre Augen. So kalt, so gefühllos. Sie war meine große Liebe
gewesen und etwas für mich Unbegreifliches hatte sie einfach zerstört, geradezu
ausgelöscht. Mit ihr hatte ich meine Vergangenheit verloren, meine Zukunft und
mein Leben. Trotz alledem bin ich ihr gefolgt, all die Jahre, nur noch mit dem
Ziel, sie irgendwie zu retten, zu erlösen. Was hätte ich auch anderes tun
sollen? Außer ihr gab es nichts mehr. Niemanden mehr. Nichts war mehr wichtig.
Es war mir egal, ob ich lebe oder sterbe. Nur sie war wichtig, nur sie! Also
bin ich ihr gefolgt, immer und immer weiter, bis ich nicht mehr loslassen
konnte. Ich konnte nicht glauben, was sie all jenen Menschen antat, denen sie
begegnete. Dieses Mädchen war nicht mehr meine geliebte Leandra, sondern ein
Ungeheuer. So ging das viele Jahre hindurch und ich merkte, dass in mir selbst
das Dunkle ebenfalls stärker wurde. Noch konnte ich es unterdrücken und in den
Tiefen meiner Seele gefangen halten, aber es rüttelte mit jedem Tag mehr an den
Gittern seines Gefängnisses. Dann kam der Tag, an dem sich alles ändern sollte.
Wir hatten uns in einer gottverlassenen Gegend wiedergefunden. Nur Wald, eisige
Kälte und Schnee begleiteten unseren Weg.
An jenem Tag hockte sie in den Trümmern einer
Ruine und starrte in die Luft.
Hier
unterbrach sich Cassian. In den letzten Jahren stets ungeweint gebliebene
Tränen schimmerten nun in seinen Augen und ein großer Kloß saß ihm im Hals.
»Ich
weiß was hier geschah«, meinte Leandriis sanft und legte ihre Hand auf die
eiskalte des Mannes. Unendlich müde sah Cassian sie an. Als er nach einer Weile
weitersprach, klang seine Stimme brüchig.
Nach diesem Tag zog ich durch die Ferne. Mein
Herz war zerrissen und es gab keinen Tag an dem ich nicht daran gedacht hätte.
Daran gedacht hätte, mir mein Leben zu nehmen. Aber ich konnte es nicht. Etwas
hinderte mich daran. Etwas Uraltes. Etwas, das Leandra in mir erweckt hatte.
Lange bevor sie starb. Ich entdeckte, dass es mehrere wie mich gab. Menschen,
in denen die Dunkelheit wohnte, diese aber kontrollieren konnten, so wie ich.
Aber es gab auch Menschen wie Leandra, die nicht in der Lage waren, ihren
Vampyr zu bändigen. Gerade sie sind daran schuld, dass Horrorgeschichten die
Menschen in ihren Bann schlugen und uns so sehr in Verruf brachten. Die
Menschen hassten uns für das, was jene Unglückliche taten und versuchten uns,
wann immer es in ihrer Macht stand, zu jagen und uns zu töten. Wir, die die
Bestie kontrollieren konnten, wurden immer weniger, während die anderen ihre
Macht ausbreiteten. Sie quälten die Menschen und nutzen ihre Fähigkeiten aus um
ihr eigenes Ego und ihr perfides Machtempfinden ausleben zu können und brachten
mehr und mehr Unglück über uns. Diese elenden Narren.
Ich jedoch habe immer versucht, mich aus diesem
Leben herauszuhalten. Aber nicht immer war es leicht. Ich versuchte, wie ein
Mensch zu leben, unter Menschen. Eine Weile ging es gut, aber irgendwann beging
ich immer einen einzigen winzigen Fehler, den die Menschen entdeckten und schon
musste ich wieder fliehen und mir ein neues Leben suchen. Viele Jahre, viele
Jahrhunderte, habe ich mein Leben auf diese Weise verbracht, verschwendet, bis
ich diese Waldhütte hier gefunden habe.
Ihre damalige Bewohnerin war eine alte, aber
sehr nette und weise Frau. Sie hat mich einfach so aufgenommen, ohne zu fragen,
ohne zu forschen. Als ich am Ende war und jemanden brauchte. Sie schien alles
von mir zu wissen und hat mir auf ihre eigene Art gezeigt, mit mir selbst
umzugehen. Ich habe gelernt meinen Vampyr einzusperren und zu verdrängen. Kurze
Zeit später starb die Frau, vererbte mir ihre Hütte und überließ mir eine
Aufgabe …
»…
diese Aufgabe warst du Leandriis.«
»Ich«,
Leandriis sah überrascht auf und blickte in Cassians müde Augen.
»Ja
mein Mädchen, du, aber mehr kann auch ich dir nicht sagen. Ich habe dich
gefunden und ich habe dich auf den rechten Weg geleitet, dich beschützt, so gut
wie ich es vermochte und ich habe dich die Dinge gelehrt, die ich dir
beibringen konnte, mehr konnte ich nicht tun. Doch ich habe dir die wichtigsten
Dinge gezeigt, du weißt wer du bist, was du bist und kannst mit allem so gut
umgehen wie ich es dir beibringen konnte. Alles andere musst du selbst
entdecken, ich habe alles getan, was ich nur konnte.«
Es
knackte und knirschte laut. Leandriis blickte sich erschrocken um. Cassian
keuchte auf. Das blaue Licht wurde schwächer. Der Lärm nahm zu.
»Flieh
Leandriis, flieh.« Entsetzen stieg in seine grauen Augen.
»Aber…«
»Nein
Leandriis, hör mir zu. Du musst fliehen. Renn, renn um dein Leben. Ich halte
sie auf, zumindest solange ich kann und bis du in Sicherheit bist. Das Feuer im
Dorf, in eurem Haus, es war kein Zufall. Sie sind hinter dir her. Sie wollten
dein Erbe. Sie wollen dich und sie dürfen dich nicht bekommen. Niemals. Also
renn jetzt und kümmere dich nicht um mich. Meine Zeit ist vorbei. Sie war schon
vor langer Zeit vorbei. Und jetzt … RENN«, das letzte Wort schrie er ihr entgegen
und nach einigen Sekunden des Zögerns sprang Leandriis endlich auf und rannte
los. An der Tür hielt sie noch einmal kurz inne, Dankbarkeit und Schmerz in
ihren Augen. Aber ein Blick in Cassians Gesicht sagte ihr, dass sie ihm nicht
mehr helfen konnte. Heftig stieß sie die Tür auf und rannte los.
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