Kapitel 11 / Tränen des Mondes
Drei
Tage lang kämpfte Leandriis mit dem Fieber. Claire, die hübsche Fremde, wich in
dieser Zeit nur selten von ihrer Seite. Als Leandriis schließlich erwachte war
es Nacht. Ihr Bett war zerwühlt und die Luft stank nach altem, kaltem Schweiß.
Ein dumpfes Pochen hinter ihren Schläfen und ein schlechter, fauliger Geschmack
auf ihrer Zunge breiteten sich aus und versuchten sie an etwas zu erinnern,
doch sie wusste einfach nicht an was. Angestrengt versuchte sie nachzudenken,
doch fast sofort explodierte der Schmerz in ihrem Kopf und stöhnend schloss sie
die Augen. Das letzte, an das sie sich erinnerte, war das Feuer in ihrem Haus,
eine waghalsige Flucht durch den Wald und die wundersame Rettung durch Claire
und die anderen, dann … war da nichts mehr.
Nur noch wie sie durch den Wald getragen wurde und nach und nach alles
in Dunkelheit erlosch.
Langsam,
Stunde um Stunde, ließ der Schmerz wieder nach und wurde zu einem schwachen,
aber beständigen Pochen am Scheitel. Jäh strömten die Geräusche der Umgebung
auf sie ein. Stimmen, die sie nicht verstehen konnte. Hastige Schritte, die das
Haus mit Leben erfüllten und irgendwo, ganz gedämpft, das Lachen eines Kindes.
Dieses Lachen war es schließlich, das Leandriis aus ihren Gedanken riss. Es hatte
etwas Magisches an sich; etwas, das Leandriis schmerzlich an etwas erinnerte,
auch wenn sie nicht wusste an was. Mit einem Ruck öffnete sie die Augen und
setzte sich auf. Sie war alleine im Zimmer und erst nach einigen Augenblicken
des Umschauens fand sie, was sie suchte. Auf einem Stuhl lagen feinsäuberlich
zusammen gelegt neue Kleider. Schnell schlüpfte sie in die Sachen, die ihr wie
angegossen passten, streifte die enganliegenden Stiefel über und band sich die
langen, braunen Haare mit einem schmalen Lederband zurück. Trotz der Geräusche,
die überall im Haus zu hören waren, begegnete Leandriis nicht einem Menschen,
als sie durch die Flure streifte. Aus einem der großen, luftigen Räume strömte
ihr ein wohlduftender Geruch entgegen und ihre Füße brachten sie fast ohne ihr
Zutun in eben dieses Zimmer. Hier schien sie endlich das Leben gefunden zu
haben, welches dem Hause innewohnte, denn der Raum war voller Menschen. Lautlos
stand sie in der Tür und betrachtete das rege Treiben. Es mischten sich hier
alle Altersstufen und Leandriis wollte sich gerade zurückziehen, als Claire auf
sie aufmerksam wurde.
»Lea«,
mit einem strahlenden Lächeln kam sie auf das Mädchen zu. »Schön, dass du noch
zu uns gefunden hast. Komm, setzt dich doch, das Frühstück ist auch gleich fertig.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, hakte sich Claire bei Leandriis ein und zog sie
zu dem vollbesetzten Tisch, welcher den Großteil der Küche einnahm. Schnell
rutschte die Menschenmasse zusammen und schuf so einen Platz, der gerade groß
genug war, dass sich Leandriis hineinquetschen konnte. Vor ihr wurde rasch ein
mit Suppe gefüllter Teller hingestellt und jemand drückte ihr eine dampfende
Tasse in die Hände. Randvoll mit heißer Schokolade gefüllt, duftete sie
herrlich, und auch die Suppe ließ Leandriis das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Ohne auf die anderen zu achten, verschlang sie die Suppe und schaffte auch noch
einen zweiten Teller. Claire beobachtete ihren Schützling mit einem Lächeln auf
den Lippen, aber ihr Blick war nicht ganz so liebevoll wie sie es vorzugeben
versuchte.
Jemand
rempelte Leandriis von der Seite an und als sie sich umdrehte, blickte sie in
das strahlende Gesicht eines Jungen. Aufmerksam betrachtete sie ihr Gegenüber,
er war vielleicht siebzehn Jahre alt, hatte verwuschelte braune Haare wie sie
und sanfte, haselnussbraune Augen, die sie verschmitzt anlächelten.
»Hey,
ich bin Kian.« Lächelnd streckte er ihr seine Hand entgegen. Leandriis blickte
ihn eine Weile an. Nahm seinen Geruch wahr, so süß, so seltsam vertraut.
Zögerlich und schüchtern lächelte Leandriis schließlich zurück und erwiderte
seine Geste.
»Nun
lass sie doch erst einmal aufessen«, mischte sich nun ein kleines Mädchen in
die seltsame Atmosphäre ein, welches Leandriis gegenüber saß. Leandriis Blick
wanderte von Kian zu ihr. Sie war … anders. Leandriis konnte nicht sagen, was
sie verwirrte, aber irgendetwas schien nicht zusammen zu passen. Sie war etwa
sechs Jahre alt, aber ihre Augen waren alt, anders konnte sie es nicht
benennen. Sie wirkten uralt in dem jungen, unschuldigen Gesicht.
»Ach
komm, Azure. Sie hat bereits ZWEI Teller leer gegessen und sie ist so klein, da
passt doch gar nichts mehr rein.« Seine Worte begleitend piekte er Leandriis in
die Seite und lächelte schelmisch. Seine Schwester zog abwertend die Luft durch
die Zähne ein und schüttelte übertrieben abfällig den Kopf. Leandriis entwich
ein Lächeln. So abwegig ihr das Gezanke der Beiden vorkam, so sehr genoss sie
diese absolut normale Geste und freute sich, dass erste Mal nicht sofort von
den Menschen, die ihr begegneten, abgestoßen zu werden.
»Genug
jetzt, und zwar alle beide«, mischte sich nun Claire ein. »Lea, Schätzchen, du
warst lange krank. Du solltest dich fürs erste viel ausruhen. Kian, zeig ihr
bitte ihr Zimmer. Und keine Sorge«, wandte sie sich wieder an Leandriis. »Du
kannst solange hierbleiben, bis wir eine endgültige Lösung für deine Situation
gefunden haben.« Leandriis blieb kaum Zeit das Gesagte zu verarbeiten, denn
Kian war indes bereits aufgesprungen und zog Leandriis mit nach oben. Schnell stibitzte
er zwei frisch gebackene, duftende Brötchen und stürmte mit Leandriis an der
Hand aus dem Raum in den großen, stillen Flur. Lachend kamen sie am Fuße der
Treppe schlitternd zum Stehen. Lächelnd reichte er ihr eines der Brötchen und
gemeinsam stiegen sie Stufe um Stufe empor. Kian führte sie in das Zimmer,
welches sie erst vor weniger Zeit verlassen hatte und sie war überrascht, dass
das Bett frisch gemacht war und das Fenster weit geöffnet wurde, so dass eisig
kalte Luft ins Zimmer strömen konnte und die alte, muffige Atmosphäre im Raum
ersetzte. Übermütig stürmte Kian an ihr vorbei, sprang auf die breite
Fensterbank und bedeutete ihr das gleiche zu tun. Dicht nebeneinander sitzend
beobachteten sie das dichte Schneetreiben, welches die Welt in eine sanfte,
weiße Decke hüllte. Schneeflocke für Schneeflocke fiel Stille auf die Erde. Bis
alles in Lautlosigkeit versank.
Irgendwann
schlief Leandriis ein. Ihr Kopf rutschte auf Kians Schulter und gierig sogen
ihre Nasenflügel seinen Duft auf. Er war ihr so unendlich vertraut und
gleichzeitig so absolut unbekannt. Es war ein Rätsel, welches sie zu lösen
momentan nicht in der Lage war und bevor sie weiter darüber nachdenken konnte,
verließ sie diese Welt und begann zu träumen.
Kian
saß eine Weile einfach so da. Das angelehnte Mädchen neben ihm wog kaum etwas
und auch so war es ihm keineswegs unangenehm. Es war … vertraut. Als würde er
sie seit Ewigkeiten kennen und hätte es nur vergessen, aber er kannte sie
nicht, dessen war er sich sicher. Niemals hätte er ein Mädchen wie sie
vergessen. Ihre Schönheit und Sanftheit betörte ihn. Die dunklen Haare rochen
wie frische Tannennadeln und ihre grünen Augen ließen ihn in jedem Atemzug
ertrinken. Nein, er hatte dieses Mädchen noch nie gesehen, und doch, er konnte
sich dem Gefühl sie zu kennen einfach nicht erwehren. Irgendwann holte er seine
Gedanken in die Gegenwart zurück, stand vorsichtig auf, trug Leandriis zum Bett
und legte sie vorsichtig hinein. Behutsam deckte er sie zu und konnte nicht
verhindern, dass seine Hand wie von selbst durch die dichten Haarsträhnen fuhr
und seine Finger einen Augenblick auf ihren blassen Wangen liegen blieben.
»Schlaf
gut«, flüsterte er und verließ den Raum.
Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel. Bedeckten
die Welt und hüllten alles in seliges Schweigen. Leandriis lief barfuß durch
den Schnee, aber ihr war nicht kalt. Im Gegenteil. Die Schneedecke schien weich
und warm. Lächelnd strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Große weiße
kristallene Flocken verfingen sich in den Strähnen und schmolzen zart dahin.
Übermütig tanzte sie in der Vollmondnacht. Himmelslichter beleuchteten ihren
Weg. Und dann war sie nicht mehr alleine. Ein großer, wunderschöner
dunkelbrauner Wolf war plötzlich an ihrer Seite. Lächelte ein wölfisches
Grinsen. Tanzte mit ihr. Im Rhythmus des fallenden Schnees und ihrer beider
Herzschläge. Und Leandriis wusste, dass sie ab heute nicht mehr alleine war.
Nie wieder alleine sein würde. Sie hatte jemanden gefunden. Ihren
Seelenpartner. Den Tänzer im Schnee. Ihren Tänzer im Schnee.
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