Kapitel 10 / Tränen des Mondes
»Sie
schläft, also verlasst bitte sofort mein Haus.« Leandriis wurde von lautem
Stimmengewirr geweckt und sah sich vorsichtig um. Sie lag in einem weichen,
weißen Bett, der Raum war karg und bestand scheinbar nur aus hellem
Kiefernholz.
»Ich
will sie sehen. Sofort! Wie konnte sie entkommen? Wie konnte dieses verdammte
räudige Vieh entkommen? Sie hätte verbrennen müssen wie all die anderen auch.
In diesem gottverdammten Haus. Wie, verdammt nochmal, hat sie es bis in den
Wald geschafft?«
»Jetzt
reicht es, du Trottel. Noch lauter und jeder hört dich. Willst du, dass sie
aufwacht und merkt, dass wir mehr wissen, als wir wissen sollten?« Mehr konnte
Leandriis nicht hören, denn die Stimmen entfernten sich weiter von ihr. Aber
auch so reichte das Gehörte für eine ganze Menge Überlegungen aus. Doch die
Gedanken konnte sie nicht greifen, wie ein schwarzer bedrohlicher Wirbel
verwüsteten sie ihren Kopf und wurden kurz darauf wieder von erlösender
Dunkelheit verschluckt.
Erst
nach Stunden tiefen traumlosen Schlafs spuckte die alles durchdringende
Müdigkeit sie wieder aus. Vorsichtig drehte sie den Kopf und öffnete
widerwillig die Augen. Ihr war schlecht und hinter ihren Schläfen pochte es
unerträglich. Leise stöhnend vor Schmerz schloss sie die Augen. Eine ganze
Weile blieb sie einfach so liegen. Die Augen geschlossen. Die Hände um einen
Deckenzipfel verkrampft. Sie atmete leise und sanft ein und aus, immer und
immer wieder. Erst als die Schritte auf der Treppe sich immer mehr in ihre
Schmerzen schlichen, blickte sie auf. Eine blonde, schlanke Frau trat ein und
raubte ihr im wahrsten Sinne des Wortes den Atem. Sie war wunderschön. Ein
aristokratisch geschnittenes Gesicht, die gerade Nase, die leicht geschwungenen
Lippen. Lippen, die sich zu Worten verzogen und Leandriis musste sich
zusammenreißen, um sie zu verstehen.
»Lea,
kleines Mädchen. Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.« Lächelnd kam sie
immer weiter auf Leandriis zu, aber diese zuckte instinktiv zurück. Irgendetwas
machte ihr Angst. Sie konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas hatte
diese Frau an sich, das sich tief in ihr Bewusstsein grub und mit Krallen
einritzte.
»Lea,
was ist los?« Leandriis erwiderte nichts. Alles in ihr kämpfte dagegen an, der
Frau noch näher zu kommen. Alles in ihr schrie danach zu fliehen, aber
Leandriis zwang sich mit eiserner Macht sitzen zu bleiben. Zwang sich, ihren
Atem zu kontrollieren und abzuwarten. Natürlich war der Frau das kurze
Zurückzucken nicht entgangen, aber sie ignorierte es einfach.
»Lea«,
sanft war ihre Stimme, so sanft. »Schön, dass du wieder wach bist. Wir hatten
schon alle Hoffnung aufgegeben, als wir das Feuer bemerkten und nicht mehr
rechtzeitig kamen um es zu löschen. Es tut mir so leid«, die fremde Frau wollte
Leandriis in ihre Arme nehmen, aber diese schüttelte nur den Kopf. Wich weiter
zurück. Stieß mit dem Rücken gegen die Wand. Panik kroch lauernd in ihr hoch.
Krampfhaft versuchte Leandriis sie herunter zu schlucken, aber die Attacken wurden
immer heftiger. Sie fing an zu schreien. Schrie sich die Kehle wund. Schlug um
sich. Kratze und biss diejenigen, die sich ihr nähern wollten. Leandriis hatte
keine Kontrolle mehr über ihr Tun und wehrte sich mit allem, was ihr zur
Verfügung stand. Entsetzt wichen die Beobachter der Szene zurück und musterten
dieses scheinbar völlig verrückte Mädchen, welches sich die blassen Arme blutig
kratzte. Dann, urplötzlich, war es vorbei. Leandriis lag zitternd mit
geschlossenen Augen in ihrem Bett und atmete schwer.
»Es
beginnt«, knurrte eine raue Stimme im Zimmer, woraufhin eisiges Schweigen
herrschte. Schließlich trat die blonde Frau auf Leandriis zu.
»Lea?«
Leandriis schlug die grünen Augen auf, sie glänzten fiebrig. Erschrocken machte
sie einen Satz auf sie zu und fühlte ihre Stirn. Sie glühte nicht nur, sie
schien in Flammen zu stehen.
»Du
hast Fieber«, stellte sie überflüssigerweise fest und drückte Leandriis zurück
ins Bett. Vorsichtig wickelte sie das Mädchen in Decken und wusch ihr mit
kaltem Wasser den Schweiß von der Stirn.
»Von
wegen es beginnt«, knurrte sie ihren Mann böse an. »Sie ist einfach nur krank.
Das hohe Fieber laugt sie völlig aus und sie fantasiert. Los, bring mir
frisches Wasser! Ich muss das Fieber aus ihrem Körper kriegen«, fauchte sie und
scheuchte ihn aus dem Raum. Nachdenklich betrachtete sie das Mädchen eine
Zeitlang.
»Was
haben sie nur mit dir vor? Noch so klein und schon so voller Lasten. Hat deine
Sippe nicht schon genug angerichtet? Warum können sie dich nicht einfach lassen
wie du bist? Arme kleine Leandriis.« Sanft strich sie ihr den Schweiß von der
Stirn und mit einem letzten Blick verließ sie den Raum.
Leandriis erwachte im Dunkeln. Sie erwachte
nicht wirklich, aber es kam dem doch schon sehr nahe. Nebel waberte über den
Boden und eisige Kälte ließ sie zittern. Nur mit einem weißen Nachthemd
bekleidet, stand sie mitten in einem Wald. Hastig fuhr sie herum als trockene
Zweige hinter ihrem Rücken im Dickicht krachend zerbarsten. Ein kleines Mädchen
trat aus dem Schatten heraus.
»Zooey.« Leandriis hatte sie sofort erkannt.
Selbst in dem hiesigen Dämmerlicht konnte sie das unvergleichliche Wesen des
kleinen Mädchens ausmachen. Ein Lächeln lag auf Zooeys Gesicht und ihre
strahlenden blauen Augen sahen sie zärtlich an.
»Leandriis, meine Süße. Du hast es also
geschafft. Gott sei Dank.« Ein ernst gemeintes warmes Lächeln huschte durch
Zooeys Mimik.
»Was bist du, Zooey?« Es war nicht die Frage,
die Leandriis stellen wollte, aber sie kam einfach aus ihrem Mund und war nicht
mehr rückgängig zu machen. Zooeys Augen veränderten sich. Sie wurden hart und
kalt. Nur einen winzigen Moment lang, aber lange genug, dass es Leandriis nicht
verborgen bleiben konnte. Das Lächeln kehrte augenblicklich in ihre Augen und
ihr Gesicht zurück. Leandriis aber wich einige Schritte zurück und musterte
Zooey abwartend.
»Lea«, Zooey trat näher an die Feach heran.
»Leandriis, was ist los? Habe ich dich erschreckt?« Sie stand jetzt so nahe,
dass Leandriis Zooeys Atem auf ihrer Haut spüren konnte.
»Was, wer, bist du?«, wiederholte sie leise,
aber nachdrücklich ihre Frage. Zooey lächelte immer noch, aber Leandriis konnte
die Falschheit spüren, die von dieser Geste ausging.
»Zooey, bitte antworte mir.« Leandriis hatte die
unsichtbare Grenze zwischen ihnen durchbrochen, eine Grenze, von der es kein
Zurück mehr gab. Alles in ihr drängte nach einer Antwort, eine Antwort, die sie
hören musste um zu verstehen. Zooeys Lippen zuckten nahezu unmerklich, aber
Leandriis konnte die Unruhe geradezu riechen, die das Mädchen ergriffen hatte,
wenn sie auch äußerlich völlig ruhig wirkte.
»Ich versuche dich auf den rechten Weg zu
lenken«, Zooeys Stimme klang rau und zum ersten Mal konnte sie den Hauch des
Alters in ihr wahrnehmen. »Man hat mich zu dir geschickt, um über dich zu
wachen.«
»Warum?«, dieses eine Wort war es, welches die
unsichtbaren Mauern um Zooey herum zerstörte und in ihre eigene, heilige Welt
eindrang. Nun erstarb auch Zooeys Lächeln endgültig, in ihren Augen blitzen
kurz die unterschiedlichsten Emotionen auf. Wut. Hass. Angst. Erst dann bekam
sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle.
»Zooey«, unbewusst setzte Leandriis eine ihre
Feachfähigkeiten ein und zwang das blonde Mädchen dazu ihr die Wahrheit zu
sagen.
Zooey knurrte, antworte aber schließlich mit
brüchiger und leiser Stimme.
»Ich habe einst einen großen Verrat begannen und
meine Strafe und meine Erlösung bestehen darin, dich zu beschützen. Du bist
etwas Besonderes, Leandriis. Cassian hat dir gezeigt, dass du anders bist; was
du bist. Und meine Aufgabe ist es nun, dich auf den rechten Weg zu lenken. Nur
du kannst uns befreien. Wesen, wie du, wie ich es einst war.« Leandriis starrte
sie an. Alle ihre Gefühle waren einfach weg. Ihr Kopf war leer und gleichzeitig
in Wirbelstürmen voller Gedanken gefangen. Sie wusste nicht mehr wo oben und wo
unten war. Verstand nichts.
»Leandriis, dir ist es hervor bestimmt, das
Súil, das Tal der Hoffnung und mit ihm die letzten Wölfe, die letzten deiner
Art zu retten.« Leandriis sah ihr bei diesen Worten direkt in die tiefblauen
Augen, erkannt die Wahrheit in ihnen und wollte gleichzeitig an ihren Worten
zweifeln.
»Du Leandriis, bist der Schlüssel. Niemand außer
dir ist in der Lage die letzten Feach zu retten.« Leandriis wartete, dass Zooey
weitersprach, aber das Mädchen schwieg, sah sie nur an.
In Leandriis´ Kopf breiteten sich Gedankenstürme
aus und sie konnte sich nicht entsinnen, welchen Sturm sie als ersten auflösen
sollte, es waren einfach zu viele. Gleichzeitig wusste sie jedoch, dass alles
der Wahrheit entsprach - dass sie tief in sich gewusst hatte, dass sie eine
Aufgabe zu bewältigen hatte und diese auch ausführen würde. Sie würde die Feach
retten. Und damit ein Andenken an Cassian schaffen. Er hatte sein Leben für
ihre Aufgabe, für sie, gegeben. Jetzt würde sie alles tun, was man von ihr
erwartete. Nur, was genau wurde von ihr erwartet?
Die Frage wuchs wie ein Lauffeuer in ihrem Kopf
und mit einem Ruck öffnete sie die Augen um Zooey genau diese zu stellen. Doch
das Mädchen verschwamm.
»Zooey, nein, ich habe noch Fragen!« Doch sie
verblasste weiter und verschwand schließlich völlig. Leandriis blieb alleine im
Wald zurück. Der Wind spielte mit ihren Haaren und das weiße Nachthemd
flatterte um ihren zierlichen Körper. Unablässig starrte sie in die Luft, aber
Zooey tauchte nicht wieder auf.
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