Kapitel 7 / Tränen des Mondes
»Arg«,
stöhnend schlug sie die Augen auf. Ihr Kopf brummte und ein hohes, ständiges
Pfeifen hatte sich in ihren Ohren breit
gemacht. Sie blinzelte in die stechende Helligkeit einer Kerze, die direkt
neben dem weißen, weichen Bett stand, in dem sie aufgewacht war.
»Na,
wieder wach?« Leandriis zuckte ertappt zusammen, wandte sich nach dem Fragenden
um und erblickte neben sich den alten Mann aus der Waldhütte auf einem kleinen
dreibeinigen Schemel sitzend.
»Leandriis«,
flüsterte der Greis leise. Leandriis wandte sich ihm zu und erschrak. Er sah
älter aus denn je; die grauen Augen trüb und seine Haut war fahl und faltig.
»Ja
ich weiß, Leandriis, meine Zeit wird bald kommen. Erschrick´ bitte nicht,
irgendwann muss selbst meine Zeit einmal kommen. Ich habe schon viel zu lange
gelebt«, ein sanftes Lächeln huschte über seine Züge.
»Wie
lange denn schon«, fragte das Mädchen unverblümt. Wie ein Messerstich schnitt
ihm diese Frage tief ins Fleisch.
»Solange,
dass ich selbst nicht mehr weiß, wie lange dies nun schon ist.«
»Aber
wie lange muss man denn leben, um zu vergessen, wie lange man schon lebt?«
»Das,
Leandriis, ist eine sehr gute Frage und ich denke, dass sie ein jeder nur für
sich selbst beantworten kann.« Leandriis nickte nachdenklich.
»Aber
dies ist nicht der Grund, warum du hier bist.« Leandriis sah ihn fragend an.
Mit diesen grünen Augen. Diese Augen hatte auch sie damals gehabt. Diese
wunderschönen Augen. Moosgrün und sanft. Wie das Rauschen der Wälder in einer
lauen Herbstnacht.
Mit
einem Ruck schüttelte er diese Gedanken ab und richtete seine Aufmerksamkeit
wieder dem Mädchen vor ihm zu. Sie war die Gegenwart und die Zukunft, er musste
die Vergangenheit vergessen.
»Warum
bin ich hier?«, wollte sie prompt wissen.
»Das,
Leandriis, wirst du noch erfahren, aber nicht jetzt. Schlaf, dann wirst du
alles Wichtige für dich entdecken.«
Damit
wandte sich der alte Mann ab und verließ den Raum. Leandriis sah ihm nach. Sie
wollte nicht schlafen, aber die Müdigkeit überrannte sie mit einer Macht gegen
die sich nicht wehren konnte.
Sie träumte. Doch der Traum war so unglaublich
real. Sie spürte den Regen auf ihrer Haut. Roch die feuchte Luft. Sogar die
Hitze des Feuers konnte sie spüren. Alleine stand sie da. In der Ferne konnte
sie eine Frau mit langen, dunklen Haaren ausmachen und einen jungen Mann mit
strohblondem Schopf. Die Luft um die Frau herum schien vor Elektrizität zu
knistern. Der Mann stand vor ihr, sah sie wie hypnotisiert an. Seine Finger
zitterten und sie sah den schlanken Dolch in seinen Händen. Er bewegte den
Mund. Nur schwer konnte Leandriis die Worte verstehen. Sie näherte sich
vorsichtig den beiden.
»Warum gehst du so viel Risiko ein, um mich, um
dieses Mädchen zu retten?«, in der Stimme der Frau lag ein gehässiger Unterton
und Spott spiegelte sich in ihren Augen.
»Weißt du es wirklich nicht?«, seine Stimme
klang so unglaublich sanft. In ihren Augen blitzte es kurz auf.
»Du würdest für sie sterben?«
»Nein. Nicht für sie. Für dich!« Etwas änderte
sich. Sanftheit flackerte in ihrem Blick. Und er sah für einen kurzen Moment
die kleine Leandra. Die Leandra von früher, die er so sehr und mit jeder Faser
seines Herzens geliebt hatte und immer noch liebte.
»Rette mich«, flüsterte sie leise. Bewegungslos
stand er noch einige Momente da, in seinem Inneren tobte ein Sturm völlig
unterschiedlicher Gedanken, doch dann nutzte er seine Chance, die vielleicht
letzte Chance, die er jemals erhalten würde. Das Messer glitt wie durch Butter
in ihr Herz und blieb dort zitternd stecken. Leandra erbebte und sah ihn an,
die grünen Augen fraßen sich in seine Seele und hinterließen Explosionen aus
den unterschiedlichsten Empfindungen. Wie er dieses Mädchen liebte. Dieses
Monster. Unendlich und für immer. Sie starb mit einem Lächeln in seinen Armen,
doch es war noch nicht vorbei, eine gewaltige Kraft umfloss ihrer beider
Körper.
Atemlos stöhnte er auf. Hatte das Gefühl in
diesem Moment sterben zu müssen. All die Dunkelheit, die in Leandra gewesen
war, strömte nun in ihn. Er spürte ihre Qualen. Spürte ihre Einsamkeit. Den
Schmerz, der sie all die Jahre begleitet hatte und nur vom Hass verdrängt
worden war. Er kämpfte, aber er drohte den Kampf zu verlieren. Die Bestie in
ihm, die in den letzten Jahren gewachsen war, reagierte. Fauchend fuhr sie die
Krallen aus und schlug ihre Zähne in seine Seele. Schreiend sank er zu Boden.
Wild um sich schlagend zerriss er mit Klauen seine Sachen und fügte sich selbst
blutige Schrammen zu. Doch genau diesen Schmerz brauchte er. Brauchte den
Schmerz um nicht den Verstand zu verlieren. Um nicht hier und jetzt zu sterben.
Oder schlimmeres als den Tod zu finden. Er kämpfte hart und doch verließ ihn
für wenige Momente die Hoffnung.
»Gib nicht auf Cassian, gib nicht auf!« Die
Stimme war einfach in seinem Kopf erschienen.
»Leandra«, dachte er, dann mobilisierte er seine
letzten Kräfte. Mit einem letzten Aufbäumen zog sich die Bestie in ihr dunkles
Gefängnis, tief in seiner Seele, zurück. Ruckartig stieß er den Atem aus, den
er unbewusst angehalten hatte. Dann ließ er sich von der Dunkelheit, die ihn
sanft umhüllte, davon treiben.
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