Kapitel 6 / Tränen des Mondes


Leandriis schrak schlagartig aus ihren Gedanken auf. Etwas mischte sich mit dem Nachtwind und erregte ihre Aufmerksamkeit. Prüfend sog sie die Luft mit geweiteten Nasenflügeln ein und wurde in ihrem Verdacht bestätigt. Rauch! Eindeutig Rauch und der Geruch von Feuer lagen in der Luft. Angestrengt beobachtete sie die Nacht und in der Ferne konnte sie den schwachen Schein von Feuer wahrnehmen. Schmerzhaft gruben sich ihre Fingerkuppen in den harten Holzrahmes des Fensters und ihre Nägel hinterließen lange Striemen in diesem.
»Leandriis«, flüsterte eine zarte Stimme hinter ihr. Abrupt drehte sie sich um und ihre Augen weiteten sich vor Schreck und Überraschung.
»Zooey«, murmelte sie leise. Das kleine blonde Puppenmädchen lächelte unschuldig. Sie hatte sich verändert. Leandriis fiel es sofort auf. Ihre Augen, es waren vor allem ihre Augen. Sie glänzten vor Lebensfreude und waren nicht mehr so leer und gefühllos wie früher. Überhaupt hatte sie sich verändert. Die Klugheit und das Erwachsene in ihren Augen waren neu, aber auch sonst wirkte das Mädchen anders, reifer.
»Komm her Lea, Leandriis«, ihre Stimme klang so erwachsen.
»Was, was ist mit dir geschehen?«, flüsterte Leandriis.
»Ach Leandriis, du weißt so wenig«. Zooey lächelte nachsichtig. Nichts war mehr von dem kleinen, behinderten und zurückgebliebenen Mädchen geblieben. Stattdessen stand eine junge, selbstbewusste Frau vor ihr, allerdings in dem Körper eines Kindes.
»Was Zooey, was weiß ich nicht?«
Ein Schrei ertönte, unnatürlich hoch. Im Rest des Hauses hatte man das Feuer bemerkt, überall waren hastende Schritte und Stimmengewirr zu hören und unheilvoll waberten Rauchschwaden durch die Luft.
»Geh Leandriis, geh. Dies hier ist nicht deine Geschichte. Dir ist etwas anderes vorherbestimmt worden. Geh Leandriis, dies hier ist nicht deine Welt!« Mit diesen Worten drehte Zooey sich um und verschwand. Leandriis blickte ihr ratlos und verwirrt hinterher, als jemand ihre Tür mit einem Ruck aufriss. Die Tür war zu? Wie nur war Zooey so schnell verwunden?
»Schnell Lea. Wach auf!« Überrascht blieb Martha im Türrahmen stehen, als sie registrierte, dass ihre Tochter längst wach war und am offenen Fenster stand. Die Hast in ihren Augen wandte sich zu Sorge, als sie die Verwirrung ihrer Tochter bemerkte.
»Alles in Ordnung, Lea?«, fragte sie besorgt. Leandriis nickte nur kurz und schrak zusammen, als es über ihnen lautstark krachte. Einer der Dachbalken war vom Druck des sich mittlerweile auch im Haus ausbreitenden Feuers zersplittert und neigte sich gefährlich nach unten. Leandriis starrte entgeistert nach oben und ihr ganzer Körper war schmerzhaft angespannt. Überall um sie herum konnte sie das Knacken und Knistern des Feuers wahrnehmen und in der Ferne konnte sie schwaches besorgtes Wolfsgeheul ausmachen. Es knallte einmal laut, Leandriis zuckte erschrocken zusammen und ein leichtes Zittern breitete sich in ihr aus. Alles um sie herum wurde leise. Ein unsäglicher Druck senkte sich auf ihre Lungen. Ihre Augen schienen blind zu werden. Alle Farben erloschen.
»Lea«, ein ersticktes Wimmern riss sie aus ihrem erstarrten Zustand. Entsetzt schnappte Leandriis nach Luft. Ein Teil des Dachbalkens hatte sich gelöst und war herunter gestürzt, halb darunter vergraben lag Martha in ihrem eigenen Blut.
»Mutter«, Leandriis stürzte auf sie zu und rutschte auf die Knie. »Mutter«, wiederholte sie ihre Worte.
»Lea, mein Mädchen, geh. Ich bitte dich, geh-.«
»Nein…«
»Du kannst nicht hier bleiben«, schnitt Martha ihr das Wort ab. »Du kannst nicht hierbleiben, wenn du bei mir bleibst, stirbst du auch.«
»Aber«, versuchte Leandriis es ein weiteres Mal.
»Geh Lea, Leandriis, bitte geh!« Leandriis starrte sie entsetzt und traurig an und dieser Schmerz traf sie wirklich. Immer hatte sie gedacht, Martha würde ihr nicht viel bedeuten, sie wäre einfach nur ein flüchtiger Mensch in ihrem Leben, aber das stimmte nicht und dies wurde ihr erst jetzt in ebendiesem Moment schmerzhaft bewusst. Und es zerriss ihr fast das Herz. Gehetzt sah sie sich um. Suchte nach einer Möglichkeit ihrer beider Leben zu retten. Überall um sie herum ertönte das Tosen der nahenden Flammen und die Hitze kam immer näher.
»Du … kannst mir nicht mehr helfen. Geh, Lea, geh endlich!« Die letzten zwei Worte schrie sie ihr mit aller ihr noch verbliebenden Kraft entgegen. Und Leandriis sah wie die Kraft, das Leben ihrer Mutter erlosch. Sie schloss die Augen und trieb verzweifelt ihre Fingernägel in die weichen Handflächen. Biss sich mit den Zähnen so fest in die Unterlippe, dass sie aufriss und ein wenig Blut abperlte. Doch es gab keine Hoffnung mehr, so verzweifelt sie sich auch einen Ausweg wünschte, der Lebensfunkte ihrer Mutter erlosch, bevor sie zu einer Lösung finden konnte.
Einige Momente blieb sie einfach nur sitzen, ohne Kraft, ohne Willen. Doch dann erhob sie sich taumelnd und kämpfte sich langsam zum Ausgang vor. Kurz bevor sie alle Kraft verließ, erschien in der Tür der alte Mann aus dem Wald.
»Leandriis«, sie konnte seine Worte nur erahnen, der tosende Lärm um sie herum übertönte alle anderen Geräusche. Er schien völlig unbeteiligt an allem zu sein. Ohne auch nur einmal das Gesicht zu verziehen, kam er Schritt für Schritt Leandriis entgegen. Bei ihr angekommen legte er schützend seinen Mantel um ihre Schultern und brachte sie zum rettenden Ausgang. Qualvoll hustend trat sie hinaus in die frische Luft und sog diese gierig in ihre Lungen.
»Danke«, flüsterte sie heiser, bevor sie in seinen Armen zusammenbrach und alles um sie herum in Dunkelheit versank.

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