Kapitel 5 / Tränen des Mondes


Dunkel war es. Und kalt. Wie immer. Der Wind pfiff durch die leere, abgebrannte Ruine im Wald. Eine junge Frau stand mitten in dem Trümmerhaufen. Lange, dunkle Haare verhüllten ihr Gesicht. Das kurze Kleid wehte um ihren zierlichen Körper. Grüne Augen blitzen aus ihrem blassen Gesicht hervor.
Langsam sah sie sich um. Blickte ihm direkt in die Augen. Vor Angst konnte er sich nicht mehr rühren. Seine Beine versagten ihm den Dienst. Stöhnend sank er auf die Knie. Schmerz explodierte in seinem Kopf. Grauenhafte Bilder fanden sich plötzlich in ihm. Bilder voller Gewalt. Angst. Schmerz. Blut. Tod.
Und sie war mittendrin. Hatte ihren Anteil an dem Verderben. Doch er konnte sie dafür nicht hassen. Etwas hinderte ihn daran. Etwas Uraltes. Eine der schwärzesten Magien der Welt, die leuchtende Macht der Liebe. Er sah die grausamen Dinge, die sie tat. Spürte den Schmerz, den sie über die Menschen brachte. Doch er konnte sie dafür nicht hassen. Nicht verurteilen. Seine Liebe war zu stark. Dabei war er der Einzige, der sie stoppen konnte. Er war der einzige Schwachpunkt, den sie hatte. Ausgerechnet er.

Ihre Geschichte begann  bereits so tragisch …

Mit nackten Füßen lief sie durch die staubigen Straßen der Stadt. Sie war ein dreckiges Straßenkind, wie tausend andere auch, aber dennoch war sie anders. Sie konnte alles haben, was sie wollte, da sie in den Menschen Sehnsüchte weckte, die sie lähmten und geradezu ihren Verstand zerfetzte. Dies nutzte sie und wurde zu etwas, das nie hätte geboren werden dürfen. Sie war traumhaft schön, doch im Inneren gleichzeitig verdorben und zerfressen. Ihre Mutter war bereits kurz nach ihrer Geburt gestorben und hatte ihrer kleinen Tochter ein mächtiges Erbe hinterlassen, welches sie fast getötet hätte. Doch sie war stark, stärker als das Dunkle in ihr, der Vampyr in ihr. Einen Vater hatte sie nie gekannt. Sie war von fremden Menschen aufgezogen worden, die für sie wie eine Familie waren. Doch lange hatte diese Idylle nicht gehalten. Als sie gerade einmal dreizehn Jahre alt war, hatten Diebe die kleine Familie überfallen und alle getötet. Alle, außer Leandra. Sie hatte alles mit ansehen müssen. Hatte die Schmerzen gespürt, die ihre Familie gespürt hatte. Aber sie hatte nicht geschrien, hatte nicht einen Ton von sich gegeben. Hatte einfach nur dagesessen und zugesehen. Während etwas in ihr zerbrach, wuchs etwas Neues und Dunkles in ihr. Die Bestie, die schon immer in ihr gelauert hatte. Die Leandra, die in dem Moment starb, als ihre gesamte Familie, ihr gesamtes Glück, ihr gesamtes Leben, ausgerottet wurde.
Der Schmerz in ihr wurde zu Hass. Grauenhaftem Hass. Und dieser Hass in ihr entfesselte die Bestie. Mit einem unmenschlichen Schrei stürzte sie sich auf die Männer und zerfetzte sie ohne innezuhalten. Erst als alle tot waren und in ihrem eigenen Blut lagen, ließ sie sich auf die Hinterbeine nieder und hockte da. Sich hin und her wiegend, summte sie mit geschlossenen Augen vor sich hin. In diesem Moment übernahm die dunkle Seite vollkommen die Oberhand über ihren Körper und ihren Verstand.
Mit einem Ruck öffnete sie die Augen. Sie glichen jetzt eher denen einer Katze als denen eines Menschen. Nie wieder würde sie die gleiche sein. Nie mehr die kleine Leandra.  Jetzt war sie zu einer Anderen geworden. Etwas anderem. Etwas Bösem und von Hass zerfressenen. Das kleine Mädchen war zu einem Monster erwacht.
Seit diesem Tag streifte sie ruhelos durch die Welt. Ging von Stadt zu Stadt und brachte Dunkelheit und Unruhe über die Menschen. Sie verführte sie mit ihrer kühlen Schönheit und brachte des Nachts ihre dunkle Seite zum Vorschein. Niemand folgte ihr auf ihren nächtlichen Beutezügen und niemand konnte ihr Herr werden. Sie glich einer Krankheit, die sich rasend über das Land ausbreitete und das Blut und die Seelen der Menschen verseuchte.
Nur einer konnte ihr widerstehen. Er hatte ebenfalls den Überfall vor mehreren Jahren überlebt, ein kleiner armer Bettlerjunger, der sich zu jener Zeit in ihrem Versteck aufgehalten hatte. Wimmernd hatte er in einer Ecke gesessenen, gelähmt vor Angst. Doch sie hatte ihn nicht angerührt. Hatte ihn nicht beachtet. Er war keiner von ihnen. Er war uninteressant. Also durfte er leben. Leben und niemals vergessen. Ohne zu wissen warum, folgte er Leandra seitdem überall hin. Immer an ihrer Seite streifte er mit ihr durch die Lande und musste ohnmächtig mit ansehen, welche Schmerzen sie über die Menschheit brachte. Er wusste, dass er sie aufhalten musste, aber er konnte es nicht. Sie war die einzige Familie, die er noch kannte, die einzige Erinnerung an eine glücklichere Vergangenheit. Vor all den Ängsten. Vor all den Albträumen. Vor all den Erinnerungen. Trotzdem konnte er sie nicht leben lassen und dies wusste er nur zu gut. Zu oft hatte er schon versucht sie daran zu hindern, ihre nächtlichen Beutezüge zu unternehmen, aber jedes Mal war er kläglich gescheitert. Er konnte von Glück reden, dass er noch lebte. Von dem Glück, dass Leandra Gefühle für ihn hatte, die sie daran hinderten, ihn zu töten. Voller Grauen erinnerte er sich an ihre Augen nach dem Überfall, völlig kalt und gefühlslos, ohne Erkennen und Leben. Wie hatte er sie geliebt, davor. Noch immer liebte er sie, aber anders als zuvor und er wusste, dass etwas passieren musste.
Und dann kam dieser eine Tag. Dieser kalte, klare Tag im Winter. Sie waren alleine, alleine im Wald. Überrascht stellte er fest, wohin sie ihn geführt hatte. Eine alte, abgebrannte Ruine stand im Wald und leise rauschte der eisige Wind durch die Trümmer. Seine Beine zitterten vor Unruhe, seine Augen wurden vor Angst dunkel. Eisig kalter Wind durchfuhr ihn und ließ ihn frösteln.
Er erblickte sie in den Trümmern hockend, ihre langen Haare wehten im Wind.
»Leandra«, flüstere er leise. Sie hob mit einem Ruck den Kopf und sah ihn an. Ihre Augen jagten ihm Schauer über den Rücken und wiederholt fragte er sich, was aus ihr geworden war. Aus diesem kleinen, süßen Mädchen, dem er seine Liebe geschenkt hatte. Langsam kam sie auf ihn zu, lähmte seinen Verstand…

An mehr konnte er sich nicht erinnern. Als er wieder erwachte, lag er zitternd und mit zerfetzten Kleidern auf dem feuchten Lehmboden. Unweit von ihm entfernt lag der tote Körper Leandras. Überrascht registrierte er, dass sie mit einem Lächeln auf den Lippen gestorben war. Der Boden um sie herum hatte sich schwarz verfärbt. Alles Leben war verschwunden. Aus ihr und aus ihrer unmittelbaren Umgebung.
Er sah sie an und fing plötzlich an bitterlich zu weinen. Er weinte um das Mädchen, das er schon etliche Jahre zuvor verloren hatte, aber erst jetzt konnte er seine Trauer zeigen. Noch Stunden saß er neben ihrer Leiche und weinte, während er sich leicht hin und her wiegte. Irgendwann, es war schon lange dunkel geworden und der nächste Morgen dämmerte bereits, stand er auf und ging. Ließ sie und auch sich selbst zurück.
Von diesem Tag an streifte er alleine durch die Welt und hatte sich schließlich fernab von jeglicher Zivilisation in einer einsamen Hütte im Wald niedergelassen. Dort lebte er seitdem und verließ nur selten den schützenden Wald. Er hatte nicht nur sein Herz in eine Mauer eingeschlossen, sondern auch sich selbst. Einsam konnte ihn niemand verletzen und vor allem konnte er niemanden verletzen.
Er hatte Leandra freilich nie vergessen, hatte sich in seiner Einsamkeit selbst zerfressen und die Bestie in sich genährt, bis er die kleine Leandriis kennen gelernt hatte. Sie erinnerte ihn auf schmerzlichste Weise an das Mädchen, welches er so sehr geliebt hatte. Ohne darüber nachzudenken nahm er die Kleine als Schülerin auf und lehrte sie auf seine Weise mit der Bestie in sich umzugehen, so wie er es selbst tat, denn Leandra hatte an diesem Tag als sie starb etwas in ihm zurück gelassen - etwas, das er nicht mehr loslassen konnte.
Leandra! Wie ein einziges Wort, ein einziger Name so viel Schmerz, so viel Sehnsucht ausdrücken konnte…

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