Kapitel 4 / Tränen des Mondes


Der alte Mann war eines Tages einfach in ihr Leben gestolpert oder sie in seines, wie man es auch sehen mag. Leandriis war durch den dichten Wald gestreift und hatte sich dabei immer tiefer und tiefer in die dunklen Schatten vorgewagt und darüber die Zeit vergessen. Sie konnte es im dämmrigen Wald nicht sehen, aber dort wo keine ausladenden Gipfel den Horizont berührten, ging die Sonne langsam unter. Gleißend rot tauchte sie das Dorf in ein dichtes Feuer und ließ die Arbeit des Tages nach und nach verblassen. Die Männer gingen von den Feldern in die nächstgelegene Taverne und die Frauen richteten zeternd das Abendbrot.
Doch Leandriis bekam von all dem nichts mit. In dem Wald war es immer dunkel; wenn man sich nicht auskannte, gab es keinen Hinweis darauf, wie spät es war, ob Tag oder Nacht.
In ihre Träumereien vertieft erreichte Leandriis die Lichtung, auf der die Hütte des Fremden stand. Interessiert richtete sie ihren Blick auf die verwitterten Bretter und die schiefen Fensterläden vor den dreckigen Scheiben. Doch bevor sie einen Fuß auf die Lichtung und somit in die Nähe der Kate setzen konnte, durchdrangen tiefe und panische Schreie die Stille. Seufzend warf Leandriis einen letzten Blick zum Fenster und erblickte kurz ein tief gefurchtes, altes Gesicht. Dieser Augenblick war so kurz, dass es Leandriis unwirklich vorkam, aber etwas hatte sich in ihr Herz gesetzt. Ein winziger Funken eines Samens, der ab diesem Abend wachsen sollte. Doch zuvor drehte sie sich um und trabte ihren Pflegeeltern entgegen, die sie bereits seit Stunden suchten.

Seit diesem Tag zog es sie jede freie Stunde hinaus in den Wald. Sie konnte nicht genau sagen, warum und weshalb, aber oft genug gab sie ihrem Drang nach und folgte den lautlosen Rufen ihres Namens. Und so traf sie letztendlich auch auf den alten, fremden Mann. Er stand eines Tages einfach vor ihr. Sie hatte ihn nicht gehört. Nicht gesehen. Nicht gerochen. Wie ein Geist war er plötzlich vor ihr aufgetaucht, hatte sie bei der Hand genommen und sie mit sich genommen. Ohne ein Wort zu sagen, aber das brauchte er auch nicht. Es fühlte sich fast wie damals bei dem grauen Wolf an. Genauso wie damals, brauchte sie auch diesmal keine rationale Erklärung dafür, dass er keine Gefahr für sie darstellte, dass alles genauso war wie es sein sollte. Somit folgte sie ihm und folgte ihm seitdem jeden Tag.
Von ihm hatte Leandriis in ruhigen Stunden lesen und schreiben gelernt. Und auch das Zählen sowie viele andere Dinge. Dinge, die ein einfaches Bauernmädchen niemals gelernt hätte. Doch dieser Mann lehrte Leandriis Dinge, die für sie schier unglaublich waren. Als Feach war sie mit einer gewissen Grundintelligenz zur Welt gekommen, aber so etwas hatte sie noch nicht erlebt. Er war auch der Einzige, der sie Leandriis nannte. Nicht Lea und auch nicht irgendwie anders, sondern einfach Leandriis. Für ihn schien dieser Name nicht mit dem Makel der alten Furcht behaftet zu sein, für ihn war es einfach ihr Name. Und er brachte ihr bei, wie es war, ein Feach zu sein. Er erklärte ihr, wie sie die Natur eines Wolfs annehmen, sich ein Fell wachsen lassen konnte. Und wie es war, sich als Wolf zu bewegen und durch den Wald zu streifen. Etwas, das sie bei niemand anderen lernen konnte, nur bei ihm. Zudem hatte er eine unglaubliche Geduld mit ihr und wurde nie böse oder schrie sie an. Leandriis fühlte sich bei ihm wohl. So wohl wie selten in der Gesellschaft von anderen Menschen. Nur ihre Pflegeeltern mochten es nicht, wenn sie sich bei dem »alten Kauz« herumtrieb, wie sie es ausdrückten. Nie nannte ihn jemand beim Namen. Es schien auch niemand zu wissen, wie er hieß. Nicht einmal Leandriis wusste es. Trotz Marthas Ermahnungen machte sie sich fast jeden Tag die Mühe und folgte dem schmalen, kaum ausgetretenen Waldweg bis zu seiner Hütte. Denn dort wollte sie sein. In dem ruhigen, duftenden Wald mit seinen tausend Eindrücken und bei dem alten Mann, der sie all die tollen und unglaublichen Sachen lehrte. Das war ihre Welt und die konnte ihr niemand nehmen. Das zumindest war ihre tiefste Überzeugung.

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