Kapitel 3 / Tränen des Mondes
Sie schrak aus dem Schlaf. Ihr Atem ging unruhig und ihr war kalt.
Zitternd schlugen ihre Zähne aufeinander, während kalter Schweiß auf ihrer Haut
perlte. In ihr rumorte es. Dieser Traum. Immer wieder dieser Traum. Das erste
Mal hatte sie ihn gehabt, als sie ein halbes Jahr bei Jonathon und Martha
wohnte. Vorher hatte sie nie etwas im Schlaf gesehen. Hatte nicht einmal
gewusst, was das war, das Träumen. Gewiss, sie hatte bereits davon gehört, sich
aber nie vorstellen können, was dies wirklich war. Und fragen kam nicht in
Frage. Sie war alleine, niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben. Was sollte
sie da schon träumen? Einsamkeit, dies allein hatte ihr Leben bestimmt. Trotz
Marthas Liebe war sie einsam, schon immer gewesen. Sie wusste nicht wer sie
war. Welchen Platz sie in der Welt haben sollte. Und dann kam der Traum. So
hell. So realistisch. So beängstigend. Leandriis wusste, dass es ein Traum
gewesen war. Und gleichzeitig wusste sie, dass es nicht nur ein Traum gewesen sein
konnte. Ihre Beine waren nass, aber nicht nass vor Schweiß, sondern nass von
Regenwasser und Tau. Sie konnte es riechen. Es gehörte nicht in ihr Bett.
Genauso wenig wie der Schmutz nicht in ihr Bett gehörte. Feuchter, lehmiger
Erdboden war auf ihrem Laken verschmiert. An ihrem Nachthemd hingen kurze,
graue Haare. Solche, wie sie Hunde verlieren. Oder eben ein Wolf. Zu scharf
waren die Erinnerungen an den Traum, zu genau für nur gezeichnete Bilder.
Leandriis argwöhnte, dass dies kein Traum gewesen sein konnte, niemals hatte
sie davon gehört, dass Träume reale Dinge hinterließen. Somit konnte es einfach
kein Traum gewesen sein. Es war nicht anders zu erklären. Das Wasser, der
Dreck, die zerkratzte Haut. In jener Nacht hatte sich etwas verändert, aber
Leandriis hätte nicht genau sagen können was.
Danach hatte sie den gleichen Traum fast jede Nacht. Und diesmal waren
die Bilder wirklich nur Träume. Niemals wieder sammelte sich Regenwasser oder
Dreck in ihrem Bett. Es war nur noch ein Traum, ein einfacher Traum. Und er war
immer gleich. Nicht die minimalste Kleinigkeit veränderte sich. Es war einfach
immer und immer wieder genau dasselbe.
Vorsichtig schlug Leandriis die schweißnasse Bettdecke zur Seite und
schwang ihre Beine aus dem warmen Bett. Nur mit ihrem Nachthemd bekleidet fror
sie in der kühlen Nachtluft. Der Boden unter ihren nackten Füßen war hart und
kalt. Raue Fasern kribbelten an ihren Fußsohlen und verstärkten die Gänsehaut
auf ihren Armen. Vollkommen unbewusst wünschte sie sich ein warmes Fell und ein
angenehm warmes Kribbeln breitete sich in ihrem gesamten Körper aus. Kurz
schien sie die Kontrolle zu verlieren, dann sog sie scharf die Luft durch ihre
Nase ein und kämpfte gegen ihren eigenen Willen an, um nicht ihr Innerstes zu
entfesseln. Mit einiger Kraft gelang es ihr dann jedoch, den Kampf zu gewinnen.
Mit einem kurzen Kopfschütteln löste sie sich ganz von ihren wölfischen
Gedanken und ihre Eckzähne blitzen kurz hervor. Zähne, die nur minimal länger
waren als die eines normalen Menschen, aber doch so lang, um den ein oder
anderen schiefen Blick auf sich zu ziehen. Denn die althergebrachten Legenden
von Vampiren und Werwölfen waren den Menschen in Fleisch und Blut übergegangen.
Doch Leandriis wusste, was sie war; sie war weder Vampir noch Werwolf, sondern
etwas völlig anderes. Sie war eine Feach. Sie wusste, was und wer sie war. Denn
auch Leandriis war nicht der Name, der ihr von den Menschen gegeben worden war,
diesen Namen hatten ihr einst die Wölfe gegeben. Am Anfang hatten die Menschen
versucht, ihr einen neuen Namen zu geben. War Leandriis doch schließlich einer
der alten, unheimlichen Namen, der aus einer tiefen und dunklen Legende
stammte. Wynter, dies war der Name, den die Menschen für sie hatten nutzen
wollen. Doch Leandriis hatte sich instinktiv dagegen verschlossen. Keine
Reaktion folgte je auf den Namen Wynter. Erst als Martha sich erbarmte und sie
Lea nannte, veränderte sich ihr Verhalten. Dieser Name war nicht so abscheulich
und mysteriös wie Leandriis und die meisten konnten sich dazu durchringen, ihn
auszusprechen. Nicht, dass jemals viele Bewohner des Dorfs mit Leandriis
redeten oder auch nur über sie gesprochen hätten. Die meiste Zeit war das
Mädchen einfach Luft für sie, existierte nicht. Die Menschen gingen ihr aus dem
Weg. Kurze Blicke streiften sie, wurden jedoch sofort wieder abgewandt, wenn
sie ihrerseits zurück sah. Tuscheln, das konnten die Leute, aber nur in der
sicheren Gesellschaft anderer. Sonst fiel nicht ein Wort über sie, zu sehr
hatte sich die Furcht in die Herzen eingenistet. Doch sofern sie sich in einer
Gruppe und in Sicherheit wähnten, redeten sie schlecht über sie und zogen über
sie her, wenn sie sich in der Nähe befand. »Dämonenmädchen, Teufelskind« und
andere Bezeichnungen säumten ihren Weg. Und dies waren noch nicht einmal die
schlimmsten Bemerkungen. Am Anfang hatte sie es noch verletzt, weil sie nicht
anders hatte sein wollen. Hatte geweint, sich vor Zorn verzehrt und war vor
Einsamkeit zerfressen. Doch dann war da dieser Traum. Der Traum, der ihr
gezeigt hatte, was und wer sie wirklich war. Erst danach fing sie an, es nicht
mehr an sich heran zu lassen. Schloss ihr Herz in eine schützende Hülle aus
Gleichgültigkeit. Leandriis fing an in ihrer eigenen Welt zu leben. Sie war
nicht auf die Gesellschaft der Menschen angewiesen, die sie nicht mochten. Die
wenigen Menschen, die Leandriis kannte und die ihr freundlich gesinnt waren, sah sie nur selten. Aber dies
war ihre Welt.
Wie das kleine Mädchen. Das kleine Mädchen, welches immer ein kleines
Mädchen bleiben würde, so hatte Leandriis gedacht. Sie hatte ähnliche Probleme
gehabt wie Leandriis selbst, weil sie nicht normal war. Zooey, so ihr Name, war
süß. Süß wie eine kleine Puppe. Lange gewellte, blonde Haare umrandeten ihr
zierliches Gesicht, tiefblaue Augen strahlten auf heller Haut, die wie
Porzellan schimmerte. Zooey wurde von ihrer Mutter abgöttisch geliebt und wie
eine zerbrechliche Glasfigur behandelt. In Zooey hatte Leandriis für kurze Zeit
eine Gleichgesinnte gefunden, da die Dorfbewohner das kleine Mädchen genauso
abschätzig behandelten wie sie. Doch bald schon hatte Zooeys Mutter ihr den
Umgang mit dem Mädchen verboten. Dem Mädchen, welches nicht sprechen und nicht
dagegen aufbegehren konnte. Sie wurde von ihrer Mutter mit Argusaugen bewacht,
die niemanden an ihre Tochter heran ließen. Leandriis, dieses Dämonenmädchen
schon gar nicht. Vollkommen abgeschottet hatte sich die verrückte Frau
zurückgezogen und verhätschelte ihre Tochter, die immer kränker und schwächer
wurde. Dann, von einer Nacht auf die andere, waren beide verschwunden gewesen.
Niemand wusste wohin. Und niemand hatte je wieder von ihnen gehört oder sie
gesehen. Einige Zeit war mehr oder weniger intensiv nach ihnen gesucht worden,
aber nach und nach war das Leben in seine normalen Bahnen zurückgekehrt und
Mutter und Tochter waren schon bald vergessen.
Und dann
war da noch der alte Mann, der in einer kleinen Holzhütte mitten im Wald lebte.
Niemand wusste wie alt dieser Mann wirklich war. In jedermanns Erinnerung war
er schon immer da gewesen. Er musste uralt sein. Noch jemand, den die
Dorfbewohner fürchteten. Er kam nur selten ins Dorf und kaufte Lebensmittel und
andere lebenswichtige Dinge ein, die er nicht selbst im Wald fand oder selbst
herstellen konnte, um dann wieder für ein ganzes Jahr im Wald in seiner Hütte
zu verschwinden. Niemand hatte je seine Hütte betreten, niemand außer
Leandriis. Sie war der einzige Gast, den die Kate je beherbergt hatte. Sie war
größer als es von draußen den Anschein hatte. Sauber, reinlich und ordentlich.
Keine unnötigen Dinge standen herum. Der Wohnraum enthielt nur einen Kamin,
einen großen Sessel und ein schmales Bett. Das einzige was hier
verschwenderisch wirkte, war ein riesiges, mehrstöckiges Regal, das randvoll
mit Büchern beladen war.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen
Mit Absenden eines Kommentars und beim Setzen eines Hakens für weitere Benachrichtigungen auf Folgekommentare erklärst Du Dich einverstanden, dass personenbezogene Daten (z.B. IP-Adresse, Standort des Logins etc.) eventuell abgespeichert und von Google weiterverarbeitet werden.
Weitere Informationen findest Du hier:
Hier findest Du die Datenschutzerklärung von Google:
Datenschutzerklärung von Google/Blogger
Hier findest Du die Datenschutzerklärung von dieser Website:
Datenschutzerklärung von Sternenfetzen