Kapitel 2 / Tränen des Mondes


»Lea«, der panische Schrei ihrer Pflegemutter peitschte durch die Nacht. Ergeben seufzte das junge Mädchen und öffnete die Augen. Ihr Blick streifte durch die Gegend und blieb auf dem nicht weit entfernten Herrenhaus haften, welches sich dunkel und majestätisch in den Himmel reckte. In der Tür stand Martha, ihre füllige Pflegemutter, die Augen furchtsam aufgerissen. Noch einmal seufzte Leandriis laut und trabte schließlich langsam dem warmen, trockenen Haus entgegen.
»Na endlich«, schnaubte Martha und konnte ihre Besorgnis nicht ganz aus ihrem Blick verdrängen. Sie liebte das kleine eigensinnige Mädchen, auch wenn dies nicht immer ganz einfach war. Vor etwa acht Jahren hatte ihr Mann Jonathon, Gott hab ihn selig, das kleine verwahrloste Mädchen im Wald gefunden, vollkommen einsam und ausgezehrt. Wie ein Hündchen hatte sie sich an seine Fersen geheftet und war ihm und seinem treuen Pferd Ved Tag für Tag gefolgt. Irgendwann konnte der gutherzige Mann das ganze Theater nicht mehr mit ansehen und hatte sich des Mädchens angenommen und es letztendlich auch mit nach Hause gebracht. Seine Frau Martha war glückselig, hatten sie doch mit Gottes Hilfe immer wieder versucht, selbst ein Kind zu bekommen. Nur Gott allein weiß, warum den beiden dieser Segen verwehrt blieb. Vielleicht um sich mit ihrer ganzen Liebe um Leandriis kümmern zu können, denn Liebe war das Wichtigste, was das Mädchen brauchte. Doch manchmal zweifelte Martha an der Richtigkeit ihres Tuns, besonders nachdem Jon an einer rätselhaften Krankheit langsam dahinsiechend gestorben war und beide alleine zurück ließ. Leandriis war anders. Keine Frage. Sie war wunderschön. Schlank, mit heller Haut und dunkelbraunen Haaren, die wie dunkle Schokoladenwellen sanft über ihren Rücken fielen. Doch am auffälligsten waren ihre Augen. Diese tiefgrünen Augen voller Wildheit. Und genau dies machte den Menschen in ihrer Umgebung Angst. Nun, vielleicht nicht direkt Angst, aber sie fühlten sich unwohl in ihrer Nähe. Vor allem die Ältesten im Dorf munkelten, dass Leandriis etwas Uraltes und Dunkles anhaftete, sie vergiftete und eine Aura von längst Vergangenem um sie herum erschuf. Leandriis hatte es schwer, niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben, doch Martha hatte sie seit jeher verteidigt und sich damit selbst zum Außenseiter gemacht. Die Dorfbewohner akzeptierten sie, natürlich, dafür lebte sie schon zu lange unter ihnen, aber unbewusst machten sie es ihr zum Vorwurf, dass sie das Kind aufgenommen und behalten hatte. Martha biss die Zähne zusammen, kapselte sich vom Dorf ab und lebte fortan ihr eigenes Leben mit Leandriis in einer selbstgewählten Einsamkeit. Es war alles viel einfacher gewesen als Jon noch am Leben war. Das Mädchen hatte ihn verehrt und alles gemacht, um ihn Lachen zu sehen. Er konnte einfach alles wieder gut machen, vor allem für Leandriis. Nach seinem Tod hatte sich vieles geändert und die Leichtigkeit war verschwunden.
Leandriis schüttelte sich wie ein Hund das Wasser aus den Haaren und unterbrach damit die Gedankengänge ihrer Pflegemutter.
»Lea«, barsch herrschte sie ihre Tochter an. »Zieh deine nassen Sachen aus und komm in die Küche, wir wollen essen.«
Damit zog sie Leandriis endgültig in den warmen Hausflur. Knurrend riss sie sich los und Martha seufzte. Leandriis hasste es angefasst zu werden und daran hatte sich nie etwas geändert. Trippelnd bewegte sich das Mädchen durch den langen Hausflur und entschwand schließlich Marthas Blicken, als sie sich die enge hölzerne Wendeltreppe hinauf schob. Der harzige Geruch des Holzes und die allgegenwärtigen Gerüche aus der Küche gruben sich tief in Leandriis´ Nase und hielten sich dort eisern fest. Erst als sie die Tür ihres Zimmers erreichte, ließ der Duft nach Essen nach und ließ nur eine vage Erinnerung zurück, dass sie zum Abendbrot herunterkommen sollte. Schnell durchmaß sie den Raum direkt im Dachgiebel und riss das Fenster weit auf. Kühle feuchte Nachtluft umwehte ihre Nase und ließ einige Strähnen ihrer dunkelbraunen Haare im Wind flattern. Leandriis fühlte ein seltenes Gefühl von Leichtigkeit in sich aufsteigen. In der Böe schwang der Geruch von Regen und frischem Leben mit. Sie liebte den Regen und seine Gerüche, die alles wie ein Neubeginn des Lebens erschienen ließen. Die Natur begann sich neu zu entfalten, die Tiere erlangten neuen Lebensmut und auch ihr gaben diese Schauer neue Kraft und Entschlossenheit.
Ein leises Heulen klang ihr aus weiter Ferne entgegen und unterbrach ihre Gedanken. Aufmerksam lauschte sie, als weitere Stimmen in den Gesang einstimmten. Wie immer berührte der Gesang ihr Herz. Ihr Wolfsherz. Lächelnd betrachte sie den dunklen Wald, der nur in den Gipfeln jahrhundertealter Bäume vom hellen Schein des zunehmenden Mondes erleuchtet wurde. Irgendwo kreischte eine Eule und mischte sich in den Wolfsgesang. Das war Leandriis´ Welt. Ihr Herz schlug schneller, immer im Rhythmus der Wölfe. Fast musste sie selbst das Gefühl niederkämpfen, ausgelassen in das Geheul mit einzustimmen. Sich selbst tadelnd schüttelte sie den Kopf und wandte sich ab.

Sie hatte sich verlaufen. Sie hatte Angst. Entsetzliche Angst. Und ihr war kalt. So unendlich kalt. Zitternd und bebend rieben ihre Zähne aufeinander. Die Dunkelheit um sie herum war undurchdringlich. Nicht ein Licht fand sich. Nicht ein einzelner Stern prangte am Horizont. Und dann diese Stille. Nichts war zu hören. Unendlich schmerzhaft legte sich diese absolute Geräuschlosigkeit auf ihre Ohren. Das einzige was sie hörte war ihr keuchender Atem. Die knisternden Schritte unter ihren nackten Füßen. Schritte, die unglaublich laut durch den Wald hallten. Fast wie Kanonenschüsse. Dann brandete der Wind auf. Spielte mit den trockenen Blättern. Knackende Äste jagten ihr eisige Schauer über den Rücken. Bedrohliche Schatten kreisten sie ein. Nebel waberte wie eine undurchdringliche Masse über den Boden. Als wolle er etwas verdecken. Doch ein inneres Gefühl leitete sie durch den dichten, düsteren Wald. Langsam schwand die Angst. Selbst als sie die ersten Wölfe bemerkte, blieb sie vollkommen ruhig. Im Gegenteil, sie fühlte sich eher geborgen in der Nähe der riesigen Tiere. Und es wurden immer mehr. Ein ganzes Rudel fand sich ein und nahm sie in ihre Mitte. Sie hatte keine Angst mehr. Die Tiere drängten sich dicht an ihre Gestalt. Streiften sie mit ihrem warmen, weichen Fell. Und da war er. Plötzlich stand er vor ihr und sah sie an. Eine lange wulstige Narbe zog sich quer über seine Schnauze. Die grauen Augen blickten sie voller Wärme an. Vorsichtig stupste er sie mit seiner kalten, feuchten Nase an. Sie hob die Hand ohne Zögern und berührte sein drahtiges graues Fell. Dann fanden ihre liebkosenden Finger seine Ohren und kraulten ihn liebevoll.
»Leandriis, mein Mädchen.«
Die Worte bildeten sich in ihrem Kopf, kein Wort kam aus seinem Maul und Leandriis nahm dies als selbstverständlich hin. Es war schließlich ein Traum.
»Wer seid ihr?« Wachsam waren ihre Augen auf den grauen Wolf gerichtet, als sie ihre Frage stellte. »Wir sind das, was man Feach nennt!«
 »Feach?« Leandriis ließ das ungewöhnliche Wort auf der Zunge zergehen. Der geheimnisvolle Klang gefiel ihr und wärmte in einer nie gekannten Weise ihr Herz.
»Ja, Feach! Wir sind Wesen, die sich in der Gestalt eines Tieres oder eines Menschen bewegen können.«
»Wie Werwölfe?«
Der Wolf verzog seine hässliche Schnauze, als würde er plötzlich Schmerzen leiden.
»Werwölfe«, er spie das Wort aus, als wäre es pures Gift. »Werwölfe sind Märchen, aber vielleicht kannst du dir das so besser vorstellen. Werwölfe sind an bestimmte Gegebenheiten gebunden. Sie können nur in bestimmten Situationen die Gestalt eines Wolfs annehmen, wenn zum Beispiel ein Vollmond am Himmel steht, aber auch nur dann unter Schmerzen und Zwang. Wir jedoch«, und seine Stimme gewann an Stolz und Erhabenheit: »Wir können uns aussuchen was wir sein wollen, ohne Schmerzen, ohne Zwang, einfach wann wir wollen!«
Leandriis schwieg. Unablässig strichen ihre Hände durch das drahtige Fell des Wolfs.
»Kann ich das auch«, war schließlich die Frage, die ihren Mund verließ.
»Ja Leandriis, auch du kannst das, aber vorher hast du noch eine wichtige Aufgabe zu erledigen. Unsere Hoffnungen ruhen auf dir, mein Kind. Nur auf dir.« Leandriis sah ihn nachdenklich an, in ihren Augen tausend unausgesprochene Fragen, doch der Wolf schüttelte nur den Kopf.
»Es kommt deine Zeit, kleine Prinzessin. Dann wird der Wolf in dir erwachen. Er wird dich noch schöner machen. Und vielleicht, vielleicht ist dann doch noch nicht alles zu spät…«
Für einen Moment schloss Leandriis ihre Augen, diese wunderschönen grünen Augen.

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