Kapitel 1 / Tränen des Mondes
Es regnete. Als hätte der Himmel all seine Schleusen geöffnet und
seine Vorräte an Wasser auf die Erde strömen lassen. Grelle Blitze erhellten im
Sekundentakt die tiefschwarze Nacht. Donner krachte unablässig. Die Erde war
matschig und alles glänzte vor Feuchtigkeit. Und mittendrinn stand Leandriis.
Das kalte Wasser rann ihr den Nacken entlang und feuchte Haarsträhnen klebten
ihr an der Stirn. Doch das stört sie nicht. Hier fühlte sie sich frei. Hier
fühlte sie sich gut. Ein kleines Lächeln erhellte ihr Gesicht, bevor es wieder
zu der alt bekannten Ernsthaftigkeit zurückkehrte. Leandriis hatte es nie
leicht gehabt. Sie war als Findelkind im Wald gefunden und zum Mündel der Stadt
erklärt worden. Das hiesige Waisenhaus wurde von der furchterregenden Hexe Mrs.
May geführt, einer herrschsüchtigen, ignoranten Frau, die nur auf ihren eigenen
Profit aus war. Natürlich nahm sie jedes Kind, welches die Stadt ihr brachte,
auf. Schließlich bekam sie dafür eine Zulage gezahlt und des Weiteren konnte
sie die Kinder betteln oder gar arbeiten schicken und den Lohn einkassieren -
natürlich alles ohne das Wissen des Stadtrates. Leandriis hatte so wie die
anderen bei ihr keinen guten Start ins Leben gehabt. Sie wuchs ohne Hoffnung,
ohne Liebe, ohne Freundschaft auf und lernte schnell, dass ihr Platz im Leben
scheinbar ganz unten war. Leandriis wurde von den Älteren herumgeschubst und
gehänselt, musste täglich in den Straßen betteln gehen und in der Küche
mithelfen. Alle Kinder im Waisenhaus hatten es schwer, aber Leandriis erging es
noch schlechter. Sie wurde gehasst. Die Kinder spürten, dass mit ihr etwas
anders war. Und die Erwachsenen konnten es ebenso fühlen. Alle wichen ihr aus.
Quälten sie. Beleidigten sie. Traten sie mit Füßen. Wie sollte sich ein Kind
entwickeln, welches so aufwuchs? Mit sieben Jahren hielt sie es nicht mehr aus
und ergriff die Flucht. Sie war auf einen Botengang geschickt worden, den sonst
niemand ausführen wollte. Mitten hinein in den dunklen Wald zur einsamen, alten
Mühle am Fluss. Und auf wen sonst sollte die Wahl fallen, als auf das
unbeliebte kleine Mädchen, vor dem alle nur Angst hatten; aus einem völlig
unwirklichen Grund, denn niemand konnte sagen, warum dieses Mädchen so viel
Angst und Furcht auslöste, wenn sie in der Nähe war. Es gab einfach keinen
greifbaren Grund und genau das machte den Menschen noch viel mehr Angst. Also
wurde Leandriis geschickt. Und Leandriis tauchte nach diesem Tag nie wieder in
der Stadt auf.
Leandriis lief und lief und mied alle Orte, an denen Menschen
aufeinander trafen. Vorbei an der Mühle, vorbei an jedem Gasthof und in das
dunkle Herz des Waldes hinein. Tränen liefen ihr über das blasse, ausgezehrte
Gesicht. Sie wusste nicht wie lange sie gelaufen war, als sie eine kleine
verlassene Höhle fand, in der sie sich zusammenrollte und vor lauter
Erschöpfung in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
Stunden später wurde sie von einem Geräusch in der Nähe geweckt. Still
verharrend lauschte sie tief in die Nacht und vernahm das Schnauben eines
Pferdes. Daneben redete eine tiefe männliche Stimme leise daher und versuchte
das Pferd zu beruhigen, welches scheinbar aufgebracht mit dem Huf auf den Boden
schlug.
»Ist ja gut mein Junge, was hast du denn?«
Schnaubend schüttelte der Fuchs seinen edlen Kopf und stieb mit der
Nase direkt in die Richtung von Leandriis´ Versteck. Dann machte das Pferd
einen Schritt vorwärts und zog seinen Besitzer mit sich, immer weiter und
weiter, bis sie genau vor dem Höhleneingang standen. Mit einem Fauchen drückte
sich das Mädchen tiefer in die Schatten und versuchte, sich vor dem Mann und
seinem Pferd zu verbergen.
»Na was haben wir denn da?«
Die Stimme kam näher und ein offenes, warmes Gesicht erschien im Licht
des Höhleneingangs.
»Hallo, kleines Mädchen. Ich tue dir nichts! Magst du vielleicht zu
mir heraus kommen, ich habe etwas zu essen für dich!«
Beruhigend lächelnd streckte er ihr die Hand entgegen und wartete
geduldig. Leandriis fauchte nur noch einmal und drückte sich enger an die
feuchte Lehmwand der Höhle.
»Nicht? Nun gut, wenn du es dir anders überlegst. Ich und Ved rasten
ein paar Schritten von hier entfernt. Und wir teilen gerne unser Essen mit
einem kleinen Mädchen wie dir.«
Dabei musste er selbst schmunzeln, zwinkerte ihr einmal zu und
entfernte sich mit seinem fuchsbraunen Pferd Ved bis zur nächsten Lichtung, wo
er ein kleines Feuer entfachte. Es dauerte nicht lang und der Geruch von
gebratenem Hasen stieg Leandriis in die Nase und ließ ihren Magen knurren. Eine
Weile hielt sie es noch aus, doch schließlich siegte der nagende Hunger in ihr.
Sie kroch aus ihrem Versteck und ließ sich in der Nähe des Mannes nieder, immer
noch bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Wortlos warf er ihr einen
saftigen Hasenschenkel zu und sah belustigt zu wie sie ihn gierig in einem
Rutsch verschlang und nachträglich noch auf dem Knochen herum nagte. Keiner von
beiden ahnte, dass ihre Lebenswege seit diesem Tage zusammen verlaufen sollten.
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