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Es werden Posts vom April, 2020 angezeigt.

Kapitel 2 / Tränen des Mondes

»Lea«, der panische Schrei ihrer Pflegemutter peitschte durch die Nacht. Ergeben seufzte das junge Mädchen und öffnete die Augen. Ihr Blick streifte durch die Gegend und blieb auf dem nicht weit entfernten Herrenhaus haften, welches sich dunkel und majestätisch in den Himmel reckte. In der Tür stand Martha, ihre füllige Pflegemutter, die Augen furchtsam aufgerissen. Noch einmal seufzte Leandriis laut und trabte schließlich langsam dem warmen, trockenen Haus entgegen. »Na endlich«, schnaubte Martha und konnte ihre Besorgnis nicht ganz aus ihrem Blick verdrängen. Sie liebte das kleine eigensinnige Mädchen, auch wenn dies nicht immer ganz einfach war. Vor etwa acht Jahren hatte ihr Mann Jonathon, Gott hab ihn selig, das kleine verwahrloste Mädchen im Wald gefunden, vollkommen einsam und ausgezehrt. Wie ein Hündchen hatte sie sich an seine Fersen geheftet und war ihm und seinem treuen Pferd Ved Tag für Tag gefolgt. Irgendwann konnte der gutherzige Mann das ganze Theater nicht mehr mi

Kapitel 1 / Tränen des Mondes

Es regnete. Als hätte der Himmel all seine Schleusen geöffnet und seine Vorräte an Wasser auf die Erde strömen lassen. Grelle Blitze erhellten im Sekundentakt die tiefschwarze Nacht. Donner krachte unablässig. Die Erde war matschig und alles glänzte vor Feuchtigkeit. Und mittendrinn stand Leandriis. Das kalte Wasser rann ihr den Nacken entlang und feuchte Haarsträhnen klebten ihr an der Stirn. Doch das stört sie nicht. Hier fühlte sie sich frei. Hier fühlte sie sich gut. Ein kleines Lächeln erhellte ihr Gesicht, bevor es wieder zu der alt bekannten Ernsthaftigkeit zurückkehrte. Leandriis hatte es nie leicht gehabt. Sie war als Findelkind im Wald gefunden und zum Mündel der Stadt erklärt worden. Das hiesige Waisenhaus wurde von der furchterregenden Hexe Mrs. May geführt, einer herrschsüchtigen, ignoranten Frau, die nur auf ihren eigenen Profit aus war. Natürlich nahm sie jedes Kind, welches die Stadt ihr brachte, auf. Schließlich bekam sie dafür eine Zulage gezahlt und des Weiteren

Prolog / Tränen des Mondes

Es war Nacht. Tiefste Nacht. Dunkel. Eiskalt. Nicht ein Stern stand am weiten Horizont. Und mitten in dieser undurchdringlichen Nacht lag ein Kind, nur eingewickelt in eine braune, zerschlissene Decke. Die kleinen Finger in den kargen Stoff gekrallt. Totenstill. Keine drei Meter von diesem Kind entfernt stand ein großer, grauer Wolf. Dampfwolken bildeten sich vor seiner von einer langen, hässlichen Narbe entstellten Schnauze. Seine kalten, grauen Augen waren auf das stille Kind gerichtet, die scharfen Zähne leicht gebleckt. Tief sog er die nach Regen riechende Luft ein, die Nase weit in die Luft gereckt. Ein tiefes, dunkles Grummeln zog sich durch seinen Körper, bevor das Geräusch als lautes, tiefes Heulen aus seinem Maul brach. Ein Heulen, das von Vergebung sprach und einzig und allein dem Kind galt. Dann verschwand er auf leisen Sohlen lautlos im tiefen, schweigenden Wald und überließ das Kind seinem Schicksal. Das Mädchen blieb stumm, nicht ein Wimmern kam über ihre Lippen, doch