Mädchen mit gebrochenen Flügeln / Magie der Träume


Ihr Schrei war lautlos. All der Schmerz, der sich in ihm brach, versank lautlos in den Tiefen der Nacht. Die Welt war kalt, so kalt und dunkel. Völlig anders als in ihrer Heimat. Ihrer Heimat der Himmel. Denn sie war ein Engel. Nun, sie war ein Engel gewesen. Denn aus dem Himmel vertrieben, hatte sie ihr Recht verloren, ein Engel zu sein. Ihr weißes Kleid war zerrissen und hing ihr in Fetzen am Körper. Ihre Flügel waren gebrochen und zerfetzt. Geknickte Federn lagen am Boden und hinterließen ihre eigene Spur der Sünde. Bluttränen weinend hockte sie am Boden und konnte nicht begreifen, was geschehen war. Warum sie aus dem Himmel vertrieben und hinein in die dunkle, kalte Welt der Menschen geworfen worden war. Nur einer kannte die Antwort auf diese Frage und er war schon nahe, so nahe. Zum ersten Mal in ihrer Zeit auf der Erde konnte Ania so etwas wie Wärme spüren. Abrupt hob sie den Kopf, die blonden Haare schienen zu knistern und ihre grünen Augen blickten sich vorsichtig, aber neugierig um. Und da stand er. Er war so schön, dass sie die Augen schließen musste, so sehr war sie von ihm geblendet. In seinem eigenen Licht stehend, lächelte er sie an und kniete vor ihr nieder. Sanft hob er ihr Kinn an und zwang sie in seine braunen Augen zu blicken. In ihnen stand scheinbar die gesamte Wahrheit der Welt und nicht nur die, denn diese Wahrheit ging weit darüber hinaus.
»Sieh mich an, blick nicht weg, mein Kind«, selbst seine Stimme klang überirdisch schön. Warm, stark und etwas, was sie nicht einordnen konnte. »Deine Verbannung war unrecht, aber unumgänglich.« Sanft strich er ihr durch das blonde Haar. Wieder schien es zu knistern und schien in der Luft zu schweben. Sie blickte ihn fragend an. Die tiefgrünen Augen voller unbeantworteter Fragen.
»Und genau dies ist das Problem«, lächelte er und zog sie sanft auf die Beine. »Komm mit und du wirst verstehen.«

Er ergriff ihre Hand und drückte sie sanft. Ohne ein Wort setzte er sich in Bewegung und zog das Engelsmädchen, welches kein Engel mehr war, hinter sich her. Und Ania konnte nicht anders. Sie lief ihm einfach hinter her. Ohne zu fragen. Ohne eigenen Willen. Weit führte er sie, geleitete sie durch die Welt und zeigte ihr die Menschen. Die Menschen wie sie wirklich waren und was sie nur zu sein vorgaben. Und diese Illusion zerfiel in seiner Gegenwart. Er war die Wahrheit und brachte genau diese unter die Menschen. Sie konnten sich dem nicht erwehren. Sie waren machtlos. Machtlos gegenüber der Wahrheit. Und der ein oder andere brach darunter zusammen. Zu sehr lebten sie in ihrer eigenen Welt und zu sehr konnten sie nicht begreifen, was für Monster sie doch eigentlich waren. Nur wenige lächelten, wenn die Wahrheit zu ihnen kam. Sie waren rein, rein und ohne Makel, weil sie Makel hatten und diese sich selbst eingestanden. Nur wer sich sah wie er war, war in der Lage die Wahrheit zu ertragen. Alle anderen wurden von der Wahrheit gnadenlos gequält, wenn die Illusion von ihnen abfiel. Und nicht wenige starben unter dieser Last. Nur einige wenige, wie gesagt, fühlten sich stärker als je zuvor. Doch was hat das mit dem Engelsmädchen zu tun? Nur Geduld, die Wahrheit braucht ihre Zeit. Niemand hat Gewalt über sie. Sie entscheidet selbst, wann und wem sie erscheint. Ohne Gnade. Ohne Hast. Ohne Geduld. Einfach nur Wahrheit.

»Sieh dir diese Menschen an, sie sind, was du nie sein durftest und doch bist«, seine Stimme war sanft, doch sie erschreckte Ania dennoch zutiefst. Seit Stunden hatte er geschwiegen, sie nur an der Hand hinter sich hergezogen, ohne Rücksicht auf sie zu nehmen. Und sie hatte es sich von ihm gefallen lassen. Ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Er zeigte ihr Familien, die sich liebten und die reinen Herzens waren. Aber er zeigte ihr auch den Krieg. Den Tod. Die Einsamkeit. Die Qualen der Menschen.
»Einst waren die Menschen rein gewesen. Kein Fleck hat ihr Herz getrübt, doch dies ist seit langem Geschichte. Nur die wenigsten Menschen wissen noch, was Liebe und Geborgenheit ist. Alle suchen danach, aber nur die wenigsten sind in der Lage, die wirkliche, die wahre Liebe zu finden.« Resigniert klang er, als er die Menschen beschrieb. »Weißt du, kleines Engelsmädchen, einst haben mich die Menschen fasziniert. Sie waren so … neugierig. So lebensfroh und von einer Reinheit, wie es heute nur noch Tiere auf dieser Welt sind. Und nicht mal diese sind alle noch wie sie einst waren. Aber zurück zu den Menschen. Seit Jahrhunderten sehe ich mir an wie sie wachsen, wie sie reifen und dann alles wieder zerstören. Seit Jahrhunderten wiederholt sich dieses Spiel. Ein Spiel, welches sie Leben nennen.« Er seufzte traurig und zum ersten Mal erschienen Risse in seiner makellosen Maske. Das strahlende Licht um ihn herum flackerte und erlosch kurz, bevor es sich wieder zu seinem alten Glanz entwickelte.
Ania bemerkte es nicht einmal, sie starrte auf die Welt, die Welt, die für sie so kalt war.
»Die wenigen Menschen, die noch rein und unschuldig in ihrem Denken sind, sterben aus. Es sind so wenig geworden, niemals werden sie wieder zu ihrer alten Stärke zurückkehren. Aber genau diese Menschen waren es, die mich so sehr interessierten. Die mich zu einem Ausgestoßenen machten. Die mich aus dem Himmel vertrieben.«
Ania zuckte erschrocken zusammen und starrte ihn an.
»Ja, Engelsmädchen, auch ich wurde aus dem Himmel vertrieben. Ich interessierte mich zu sehr für die Menschen und ihr Verhalten und ich begann Fragen zu stellen. Doch Fragen sind im Himmel nicht erwünscht. Man gebot mir zu Schweigen, doch lange konnte ich meine innere Stimme nicht zurückhalten. Und ich begann wieder zu fragen.« In seinen braunen Augen spiegelten sich dunkle Schatten der Vergangenheit und wieder flackerte sein Licht.
»Ich… ich habe doch nur eine einzige Frage gestellt«, stammelte Ania. Ihre Stimme war samten, von einem glockenklaren Klang durchzogen- Eine Stimme, die einem Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Eine Stimme, der man sich einfach nicht entziehen konnte.
»Ja Engelsmädchen, es war nur eine Frage. Aber die Frage, diese eine Frage hättest du niemals stellen dürfen«, seine Stimme war plötzlich mit Wut gemischt. Das Licht um ihn herum färbte sich flammend rot und seine Augen sprühten vor unterdrücktem Zorn. Ania schreckte vor ihm zurück, doch er ließ ihre Hand nicht los. Fast krampfhaft hielt er sie fest.
»Du hast mit deiner Frage alles in Frage gestellt. Wirklich alles. Die Welt und den Himmel. Die Hölle und das Paradies. Wage es niemals, diese eine Frage zu stellen, sonst wirst du alles verlieren. Sieh dir die Menschen an. Sie haben diese Frage gestellt. Und nun? Sie sie dir genau an. Sie sind gefangen in ihrer eigenen kaputten und dunklen Welt. Und sie haben sich selbst dorthin gebracht. Sieh sie dir an. Sind sie glücklich? Nein, antworte nicht. Denk darüber nach und beantworte dir diese Frage selbst. Soll ich es dir sagen? Nein, sie sind nicht glücklich, nicht in ihren Herzen. Oh ja, sie haben noch Herzen. Doch nur die wenigsten sind warm. Die meisten sind aus Dunkelheit gemacht. Sie sind einsam. Einsam und allein und versuchen alles um dieses Gefühl zu verstecken. Sieh dir diese Welt an. Sie ist dunkel. Siehst du die einzelnen Lichter? Das sind die wirklich glücklichen Menschen. Die, die sich mit dem zufrieden geben, was sie haben. Die, die ein Herz haben, in dem jemand wohnt. In denen die Liebe noch lebt. Aber sieh dir diese Lichter an, wie wenige es sind und wie viele es einmal waren. Damals als ich auf diese Welt kam.« Traurig blickte er sie an. Erschrocken nahm sie die Tränen in seinen Augenwinkeln wahr.
»Wenn Engel beginnen wie die Menschen zu werden, haben sie kein Anrecht mehr auf den Himmel. Dann sind sie genauso verloren wie diese armen Kreaturen.« Sein Arm glitt durch die Luft wie um alles zusammenzufassen. Die ganze Welt zusammen zu fassen.
»Engelsmädchen, sieh wie die Welt zerbricht. Sie zerbricht an Hass und Neid. An Eifersucht und Verachtung. Liebe ist käuflich und für die meisten reicht es um sich nicht mehr alleine zu fühlen. Aber die anderen, die anderen verkümmern ohne Liebe. Fühlst du die Dunkelheit? Ja, du fühlst sie. Fühlst sie seit du auf dieser Welt bist und in dieser Dunkelheit wirst du fortan leben. Kleines gefallenes Engelsmädchen.« Sein Blick fand den ihren und hielt ihn fest.
»Geh, wandle durch die Welt und bring den Menschen ein wenig Licht zurück. Du bist kein Engel mehr, du bist nun ein Wanderer. Zeige den Menschen das Licht. Zeige ihnen die Liebe. Zeige ihnen die Wahrheit. Und bring ein wenig Wärme in die Welt zurück. Dies ist ab sofort deine Aufgabe und du wirst weiterhin ein wenig Engel sein.« Mit diesen Worten ließ er Anias Hand los. Dunkelheit umfing sie und die alte Kälte. Kälte, die sie nun lindern sollte.
»Viel Glück, kleines Mädchen. Bring das Licht zurück und du selbst wirst das Licht wieder entdecken.« Er entfernte sich Schritt für Schritt von ihr. Das Leuchten wurde schwächer. Er verblasste und hinterließ nur eines. Er hinterließ die Wahrheit. Und Ania empfing sie mit Freude. Sie war stark und sie war rein. Die Wahrheit hatte keine Macht über sie. Die Wahrheit zwang sie nicht in die Knie. Die Wahrheit war das leuchtende Licht, der Wegweiser in der Dunkelheit. Ania lächelte. Ihre zerfetzten Flügel glätteten sich. Fügten sich wieder zusammen. Erstrahlten schneeweiß und umgaben ihren Körper wie einen Schutzschild. Sie war kein Engel mehr, kein Engel im Himmel. Doch sie war dennoch ein Engel, ein Engel auf Erden. Seit diesem Tag zog sie durch die Welt und zeigte den Menschen die Liebe und brachte die Wärme zurück in ihre Herzen.

Die Frage, die Ania aus dem Himmel vertrieb, war so einfacher Natur, dass selbst Kinder imstande waren, sie zu stellen. Die Frage lautete: Warum?

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