Fuchslicht / Magie der Träume


Alexis erwachte. Ihr Körper schmerzte und fühlte sich … anders an. Ein dumpfes Geräusch erklang in der Nacht und sie drehte ein Ohr in diese Richtung. Moment, was?
Mit einem Mal war sie hellwach und schoss auf ihre Beine. Oder Pfoten. Panisch schüttelte sie den Kopf, doch das rote Fuchsfell ließ sich einfach nicht abschütteln. Als sie um Hilfe schreien wollte, verließ nur ein Quietschen ihr Maul. Verzweifelt tänzelte sie um ihre eigene Achse, aber es war unumstößlich, sie war ein Fuchs wie auch immer dies hatte geschehen können.
»Alexis« gurrte eine Stimme plötzlich neben ihr und erschrocken fuhr sie zurück. Über ihr auf einem Baum saß eine Eule und starrte sie aus ihren orangenen Augen an.
»Wie? Wer bist du und warum kann ich dich verstehen? Du bist eine Eule!«
»Und du bist ein Mensch, wenn auch in einem Fuchskörper. Findest du es wirklich seltsam, dass ich dich verstehe.« Die Eule gluckste leicht, was wohl ein Lachen imitieren sollte.
»Ich bin Shandra. Und wie du schon richtig festgestellt hast, bin ich eine Eule. Ich bin jedoch nicht wichtig, du bist es! Alexis, du wolltest sterben! Der Fuchsjunge, in dessen Körper du steckst, musste sterben. Die Zeit hat dir eine zweite Chance gegeben. Nutze sie!« Mit diesen Worten breitete Shandra ihre Flügel aus und  verschwand lautlos in der dunklen Nacht und ließ Alexis verwirrt zurück.

Die Zeit verrann, doch Alexis rührte sich nicht von der Stelle. Sie wusste weder ein noch aus, ihre Pfoten waren wie am weichen Waldboden festgewachsen. Am Ende hatte sie keine Ahnung wie lange sie schon so dort saß als eine schlanke hellrote Füchsin aus den Schatten trat.
»Vom herum sitzen wird deine Situation auch nicht besser«, sanft stupste sie Alexis mit der Nase an. »Komm mit, ich bin Tiya, du kannst die Nacht bei uns verbringen.«
Alexis rührte sich nicht, nur ein leichtes Zittern fuhr durch ihr Fell.
»Nun sei nicht so schüchtern«, sanft biss Tiya ihr in die Schulter und forderte sie auf, ihr zu folgen. Alexis wusste nicht was sie tun sollte. Vielleicht wachte sie einfach bald auf und war wieder ein Mensch. Oder tot. Wollte sie vorhin nicht noch tot sein? Warum hatte sie jetzt plötzlich Sehnsucht nach ihren Eltern? Die waren doch sowieso nie da gewesen. Hatten ihr nie zugehört. Sie nie verstanden. Sie ignoriert. Warum wollte sie jetzt zu ihnen? Als würden sie ihr diesmal helfen!
»Hey«, Tiya biss ihr ins rechte Ohr und zog daran. »Du kannst hier sitzen bleiben und verhungern oder was auch immer, aber es wäre einfacher, wenn du einfach mitkommen würdest, es kann nachts sehr kalt werden.«
Alexis hob den Kopf, sah Tiya an und vertrieb die Gedanken aus ihrem Kopf. Erhob sich träge und tapste der älteren Füchsin hinterher als sie auf dem kürzesten Weg zu ihrem Bau lief.

Der Bau war ein alter verlassener Dachsbau, wie Tiya ihr erklärte, und bevor sie etwas fragen konnte, waren sie von drei kleinen Fuchswelpen umringt.
Neugierig sprangen sie um die beiden älteren Füchse herum, nur ein kleiner, etwas dunklerer Kohlfuchs stand etwas schüchtern weiter weg und sah vorsichtig zu ihnen herüber.
»Maja, Lanie, nicht so aufgeregt«, rief Tiya die zwei Fuchsmädchen zurück, die Alexis bereits in Beschlag genommen hatten, um sie herum sprangen und ihr in die Ohren zwickten.
»Die beiden Wirbelwinde hier sind Maja und Lanie«, wandte sie sich an Alexis. »Und der Kleine dahinten ist Myko, er ist ein wenig zurückhaltend.« Alexis warf einen Blick zu Myko und sie sah etwas in seinen Augen, was ihr im Herzen wehtat, auch wenn sie es nicht wirklich fassen konnte.
Myko quiekte kurz und zog sich wieder zurück, die Augen immer fest auf Alexis gerichtet, die Ohren aufmerksam aufgestelllt. Tiya scheuchte die beiden Mädchen ebenfalls zurück und wartete bis die drei Welpen sich zusammengerollt hatten und langsam in den Schlaf hinüber glitten.
»Komm«, Tiya stupste sie an und führte sie weg von den Welpen zum Eingang der Höhle und ließ sich dort nieder. Alexis setze sich neben sie und sah in die Nacht hinaus.
»Was denkst du?«, wagte Tiya schließlich den Anfang.
»Ich frage mich, warum ich hier bin! Ich bin kein Fuchs, ich will kein Fuchs sein. Ich will niemand sein.«
Wenn Tiya über diese Äußerung überrascht schien so zeigte sie es nicht. Überhaupt schien sie über einiges Bescheid zu wissen, schließlich war sie einfach aufgetaucht und hatte sie in ihr Zuhause mitgenommen. Dies macht doch kein normaler Fuchs, oder?
»Du bist aber jemand, Alexis! Ich weiß nicht, was mit dir passiert ist, aber du bist hier. Vielleicht ist dies deine letzte Chance. Vielleicht ist es schon zu spät. So oder so, mach das Beste daraus und das wichtigste«, ein füchsisches Grinsen breitete sich auf Tiyas Gesicht aus: »sei um Himmels Willen ein Fuchs.«
Alexis sah sie an, sprachlos. Was bitte sollte das bedeuten? Sie war kein Fuchs! Sie wollte nicht wie ein Fuchs sein! Sie wollte Alexis sein, ein Mensch. Oder nicht? Wer wollte sie sein, wenn sie die Wahl hatte?

Am Ende war es egal, wer sie sein wollte, denn als sie am nächsten Morgen erwachte, war sie noch immer ein Fuchs. Hellbraunes Fell bedeckte ihren Körper. Sie hatte vier schwarze Pfoten. Einen flauschigen Schwanz. Und zwei spitze Ohren, die sie um hundert Grad drehen konnte. Faszinierend, aber sie wollte kein Fuchs sein. Sie wollte wieder ein Mensch sein. Obwohl, wollte sie das wirklich? Nachdenklich schob sie die Schwanzspitze über ihre Augen und verlor sich in Gedanken.

Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie ihr Leben gehasst. Sie war nie fett gewesen, aber sie war schon etwas fülliger. Und die Kinder hatten sie spüren lassen, dass sie nicht in ihre Vorstellung passte. Beleidigungen und Schikanen hatten bereits in der Grundschule ihr Leben begleitet. Sie war immer die Letzte, die beim Sport ausgewählt wurde. Sie wurde nie zu Geburtstagen eingeladen. Sie wurde in den Pausen auf dem Schulhof mit Essen beworfen, wenn kein Lehrer hinsah.
»Hier, du kannst doch nichts anderes als essen, nicht, dass du verhungerst, wenn du drei Sekunden lang nichts isst, Fettschwabbel.«
Es tat weh, jeder Tag in der Schule war eine Qual. Es waren nicht nur die Kinder, die sie piesackten und hänselten, selbst die Erwachsenen konnten sich den ein oder anderen Seitenhieb nicht verkneifen. Und erst ihre Eltern. Sie liebten sie, keine Frage, aber …

»Woran denkt du«, unterbrach sie plötzlich eine vorsichtige Stimme. Myko, schoss es ihr durch den Kopf und richtig, der kleine Fuchs hatte sich neben sie geschoben und sah sie zurückhaltend, aber auch neugierig an.
»An nichts bestimmtes«, erwiderte sie und wackelte unbewusst mit den Ohren.
»Das stimmt nicht, du bist traurig«, Myko sah sie bei diesen Worten nicht an. Nachdenklich betrachtete sie den kleinen Fuchs. Er war so anders als seine beiden Schwestern, viel ruhiger und ein wenig träumerisch.
»Alexis, Myko, kommt her«, Tiya rief sie beide vom Höhleneingang herbei und gemeinsam verließen sie den schützenden Bau.
Draußen schien die Sonne und genussvoll quietsche Alexis kurz auf, als die wärmenden Strahlen ihr Fell liebkosten.
Die Fuchswelpen stoben auseinander und die beiden Mädchen fielen in Spiellaune übereinander her und ließen auch ihre Mutter und Alexis nicht außen vor. Vorwitzig kletterten sie ihnen auf den Rücken, bissen spielerisch in ihre Ohren und zupften an den buschigen Schwänzen.
»Nicht so wild«, mahnte Tiya nachsichtig und stupste Myko dabei an. »Los, spiel mit.« Doch Myko schüttelte nur den Kopf und zog sich ein wenig zurück. Alleine in der Sonne sitzend beobachtete er eine Weile seine Schwestern, rollte sich schließlich zu einer kleinen festen Kugel zusammen und schob die Schwanzspitze über seine Nase. Etwas an dieser Szene berührte Alexis im Herzen und vorsichtig ging sie auf ihn zu.
»Myko«, sagte sie leise und wartete bis sie der kleine Fuchs aus dunklen Augen fragen ansah. »Darf ich mich zu dir setzen?« Myko wackelte nur kurz mit den Ohren, was Alexis als ja auffasste und legte sich neben den kleinen Kohlfuchs.
So lagen sie eine Weile nebeneinander und Alexis begann irgendwann zu träumen.

Sie war wieder hier. Nein, nicht in der Schule, Zuhause. In den ewig langen Sommerferien. So ungerne sie auch in der Schule war, daheim war es nicht unbedingt immer besser. Ihre Mutter hatte wieder eine neue Diät aufgetrieben, die sie diesen Sommer ausprobierten. Als würde das irgendetwas bringen. Sie war fett und sie würde immer fett bleiben.
Auch heute gab es nicht mehr als Gemüsesticks zum Essen. Gurke, Karotte, Paprika. Sie konnte es nicht mehr sehen! Als würde es etwas bringen. Wie viele Diäten, wie viele Sportprogramme, hatten sie schon ausprobiert. Nichts würde den erwünschten Effekt bringen. Niemals.
In diesem Sommer würde sie vierzehn werden. Ihr Geburtstag war nur noch zwei Wochen entfernt. Wie jedes Jahr hatte ihre Mutter sie gefragt, was sie gerne für eine Party hätte und wen sie einladen möchte. Natürlich niemand, als würde irgendjemand kommen. Trotzdem hatte ihre Mutter wie jedes Jahr etwas geplant, aber niemand kam. Das dicke hässliche Mädchen würde nie Freunde finden. Wann würde sie es endlich lernen?
Es war das erste Jahr, war es wirklich erst im letzten Jahr gewesen, dass sie zu einem Messer griff. Sich das erste Mal bewusst selbst verletzte. Das kalte Metall auf ihrer kalten, blassen Haut spürte. Die roten Striemen. Das warme pulsierende Blut. Es tat so gut und half doch nicht…

»Du bist traurig«, meinte Myko plötzlich neben ihr. »So wie ich früher immer traurig war.« Überraschte sah Alexis auf.
»Warum Myko? Warum bist du traurig?« Und es interessierte sie wirklich! Zu oft hatte man ihr diese Frage selbst gestellt, ohne es zu meinen. Niemand wollte wirklich wissen wie es ihr ginge, aber aus Höflichkeit fragte man eben und ging dann so schnell wie möglich zu unverfänglichen Themen über oder schwieg einfach.
Myko antwortete lange nicht. Als wäre er sich dessen bewusst, was Alexis dachte. Doch sie wartete geduldig und irgendwann begann Myko leise zu sprechen.
»Ich weiß es nicht. Ich bin so anders als meine Schwestern«, er warf einen Blick zu den beiden tobenden hellroten Fuchsmädchen. »Sie sind so … einfach glücklich. Sie leben einfach. Ich muss immerzu denken. Daran denken, dass ich anders bin. Mein Fell ist so dunkel und meine Pfote.« Er streckte die linke Vorderpfote aus, sie war kürzer als die rechte und schien nicht richtig ausgebildet zu sein. »Und trotzdem, ich war die ersten Wochen, als ich bemerkte wie anders ich war und wie die beiden immerzu ihre Späße mit mir trieben immer unglücklich. Aber … dann traf ich einen anderen Fuchs im Traum. « Nachdenklich blickte er in die helle Sonne.
»Er war uralt und hatte silbernes Fell. Ich solle nicht mehr traurig sein, meinte er. Dass mein Leben trotzdem etwas Besonderes sei, weil es mein Leben ist! Ein Leben, welches ich nach meinen Wünschen formen kann und in dem ich aufhören muss, auf andere zu hören, sondern auf das was ich möchte!«
Danach schwieg Myko und auch Alexis wusste nicht, was sie sagen sollte, daher schwiegen sie zusammen.

Weihnachten. Das schrecklichste Fest für Alexis. Ihre ach so perfekte Familie. Wenn Eltern, Großeltern und was auch immer zusammentrafen und ein heiles Bild vorspielten. Wie sie es hasste. So sehr! Auch dieses Jahr war wieder ein Fest bei den Großeltern geplant. Alexis bekam  bereits Magenschmerzen, wenn sie nur daran dachte.
In der Nacht vor Heiligabend traf sie eine Entscheidung. Einfach so.
Es war ihr erster Versuch und er misslang kläglich. Sie nahm so viele Tabletten wie sie finden konnte, aber bevor etwas passieren konnte, wurde ihr schlecht und sie erbrach sie laut würgend wieder. Ihre Mutter nahm an, sie habe einen verdorbenen Magen und sie durfte zu Hause bleiben. Allein. An Weihnachten. Es war das beste Geschenk seit langer, langer Zeit.

Die Tage vergingen und Alexis wuchs langsam in die ungewohnte Rolle ein Fuchs zu sein hinein. Alles war seltsam. Aber sie dachte nicht weiter darüber nach. Die meiste Zeit verbrachte sie mit schlafen und nachdenken, wobei ihr meist Myko Gesellschaft leistete. Der kleine Fuchs war ruhig, aber er liebte das Leben. Obwohl er wegen seiner Pfote eine deutliche Einschränkung hatte, tobte er durch den Wald und jagte Schmetterlinge, die vorwitzig um seine Nase herum schwirrten.
Niemand wagte darüber zu sprechen, dass er es schwierig haben würde. Nicht selten starben Füchse in ihren ersten Lebensjahren, die wenigsten erreicht das Erwachsenenalter. Und Myko war besonders gefährdet, doch noch war alles gut. Seine Mutter und die kleinen Zwillingsschwestern passten auf ihn auf und ließen ihn sein wie er war. Ein kleiner verspielter Fuchs.
Wären ihre Eltern doch nur auch so rücksichtsvoll gewesen!

Neben den hunderttausend Diäten, die ihre Eltern für sie auserkoren hatten, versuchte ihre Mutter sie auch immer und immer wieder zum Sport zu bringen. Joggen, Fitnesstraining, Home-Work-Outs. Irgendetwas fand ihre Mutter immer. Und nie brachte es den erwünschten Erfolg. Es war unendlich frustrierend. In diesem Sommer, mit fünfzehn Jahren, griff sie wieder zum Messer. Sie stand in der Küche, ein Stück Kuchen auf dem Teller und weinte beim Essen. Ihre kleine Schwester hatte Geburtstag und sie musste ein Stück essen. Sie musste! Also tat sie es. Für ihre Schwester. Doch sie selbst konnte es sich nicht verzeihen.
Beim Teller wegstellen, sah sie es. Das kleine scharfe Messer in der Spüle. Und ihr Kopf setzte aus …

»Schnell, Alexis. Wach auf!« Tiya zerrte an ihrem Ohr um sicherzugehen, dass Alexis auch wirklich wach wurde.
»Was?«, schlaftrunken regte sie sich und wurde nur langsam wach.
»Wir müssen auf der Hut sein, Menschen treiben sich im Wald herum. Wir müssen aufmerksam sein. Sie haben mir schon einmal meine Jungen geraubt.« Tiyas Augen verdunkelten sich kurz, bis sie diese Gedanken wieder abschütteln konnte.
Alexis war plötzlich hellwach. Ihre empfindlichen Ohren nahmen jetzt auch die für den Wald untypischen Geräusche war. Nicht, dass hier nie Menschen wären, aber diesmal hörte es sich anders an. Die Stimmen waren laut und ruppig. Schritte, von schweren Stiefeln und Arbeitsschuhen verstärkt, knallten dumpf auf den lehmigen Erdboden. Was zum …?
»Was ist das?«, die Frage kam ängstlich quietschend aus Alexis´ Maul.
»Menschen, die den Wald ausbeuten! Sie bringen die Bäume zum Sterben und somit auch die Tiere. Sie rauben uns den Lebensraum.« Tiyas Stimme war rau vor Abscheu. Alexis konnte nichts erwidern, denn Tiya forderte sie zum Schweigen auf.
»Lass uns aufpassen, wohin sie gehen. Wir müssen aufmerksam sein, sobald sie sich dem Bau nähern, müssen wir fliehen.« Also warteten sie. Und warteten. Bis sich Alexis irgendwann wieder in Gedanken verlor.

»Vertrauen! Alexis, wie sollen wir dir je wieder vertrauen?« Als wäre das mein Problem, denkt sich Alexis und schließt die Augen bei den Worten ihrer Eltern.

Maja knurrte kurz, doch Alexis wurde klar, dass die kleine Füchsin nur schlief. Zusammen mit ihrer Schwester hatte sie sich dicht hinter ihrer Mutter zusammengerollt und beide waren beim Warten eingeschlafen. Myko lag nah bei  ihr und blickte mit seinen dunklen Augen nachdenklich nach vorne, wo Tiya mit all ihren Sinnen die Vorgänge im Wald beobachtete. Ihre Ohren war spitz nach vorne gerichtet, ihr ganzer Körper war angespannt und bildete eine gerade Linie bis zur Schwanzspitze. Alexis rutschte ein wenig näher an Myko heran, der kurz gurrte und ließ ihren Gedanken wieder freien Lauf.

Nach ihrem ersten versuch veränderte sie sich. Sie aß nichts mehr. Sie hungerte sich so weiter herunter, dass sie nicht mehr fett war, sondern dürr. Viel zu dürr. Sie wurde dieses Mädchen, bei dem man die Rippen zählen konnte. Dieses Mädchen, das sich lieber in fremde Welten flüchtete als in der Realität zu sein. Doch niemand konnte ihr diesen Schmerz, diese Leere im Inneren nehmen. Sie wurde weiterhin gemieden. Fett war sie nicht gut genug gewesen. Dünn war sie es ebenfalls nicht.
»Wir reden später, Schatz!« Wie oft hatte ihr Vater diesen Satz gesagt? Nie, nie hatten sie geredet. Es war eine Lüge. Jedes Mal. Niemand hörte ihr zu. Niemand fragte sie, was sie empfand. Was sie auf dieser Welt noch hielt. Sie wollte sterben. Es war zwecklos nach dem Grund zu fragen, doch die Leute würden es immer tun. Viel wichtiger war doch die Frage: Warum nicht? Und würde es wehtun? War es leicht? War es leicht zu sterben?

Plötzlich quiekte Myko neben ihrem Ohr und erschrocken fuhr sie hoch.
»Was? Was ist passiert?«
»Mama meint, wir müssen vorsichtig sein. Die Menschen sind zwar wieder weg, aber sicher sind wir dennoch nicht.«
»Als würden die Menschen sich einfach wieder verziehen und nichts zerstören«, brummte Tiya dunkel vom Tunneleingang. »Sie haben den halben Wald ausgerottet, fällen Bäume, töten Tiere. Vor drei Jahren haben sie meine Jungen gefangen und verschleppt. Wer weiß, was sie mit ihnen angestellt haben.« Alexis fühlte geradezu wie Tiyas Herz zerbrach. Aufmerksam betrachtete sie die Füchsin. Sie hatte so viel erlebt, und doch war sie so stark. Wie schaffte sie das? Obwohl das ganze Leben gegen sie war?
»Es wird nie genug für den Menschen sein, niemals! Er wird erst ruhen, wenn er uns und sich selbst vernichtet hat! Erst dann kann die Erde ruhen!«
Tiya drehte sich um und verließ den Bau. Alexis folgte ihr beherzt und jagte mit ihr durch die Dämmerung. Sie lernte schnell wie man kleine Mäuse fing und welche wilden Beeren ihren Magen füllen würden und welche sie lieber hängen ließ.
Nachdem ihr Magen voll war, sah sie sich ein wenig aufmerksamer um. Ihr war nicht bewusst wie schön der Wald war. Aus Fuchsaugen. Überall war Leben. Das Trippeln kleiner Pfoten. Das Scharren von Hufen. Das Schlagen von Flügeln. Das leichte Wippen der Blätter. Und so vieles mehr. Hier war Leben! Richtiges Leben. Und mit einem Mal schmerzte ihr Herz. Und ihr wurde bewusst, dass vielleicht doch nicht alles so schlecht war wie sie es sich immer selbst gemacht hatte.

Ich ritze in meine Haut. Sei still! Jeder kurze Schmerz, jeder Blutstropfen wispert: Sei still!
»Kein Problem ist so schlimm, dass es morgen nicht schon wieder anders aussehen würde.« Sanft strich ihr Vater ihr durch die blonden Haare.
»Natürlich nicht, Dad«, dachte sie. »Ich bin nur ein kleines Mädchen. Ich glaube noch an den Weihnachtsmann und die Zahnfee. Und vor allem glaube ich noch an dich!« Ihr Herz schmerzte bei diesen Gedanken, aber sie lächelte schmerzhaft für ihren Vater. Tat das, was er hören, was er sehen wollte.
Gleichzeitig bohrte sie ihre Fingernägel in die neusten Striemen ihrer Haut. Es pulsierte und schmerzte und ließ sie das kurze, grimassenhafte Lächeln für ihren Vater durchhalten. Er war zu abgelenkt um zu sehen wie das Gesicht seiner Tochter eine starre Maske wurde. Oder es war ihm egal. Sie war ein Kind, wieso sollte er ihre Probleme ernster nehmen als seine eigenen? Warum?

»Du meintest vorhin, sie haben dir deine Jungen gestohlen«, wagte Alexis schließlich einen zaghaften Vorstoß. Tiya wandte sie ihr zu und in ihren tieftraurigen schwarzen Augen las Alexis, dass sie nicht über das Thema sprechen wollte.
»Tiya. Es … es tut mir leid. Ich hätte nicht fragen sollen. Sorry.«
»Nein, ist schon gut«, meinte Tiya sanft und schwieg, lange.
»Es war vor ein paar Jahren, ich hatte wie dieses Jahr nur drei Jungen. Sie waren so schön. So lebhaft. Ich hatte Hoffnung, große Hoffnung, alle drei durch das erste Jahr zu bekommen. Doch dann kamen sie«, ihre Stimme wurde dumpf, vor Schmerz verzerrt.
»Sie hatten Hunde dabei. Sie waren laut und maßlos. Zertrampelten die Pflanzen. Vertrieben, verletzten und schossen Tiere. Die Hunde gruben sich durch die Erde. Sie fanden auch uns. Meine Jungen. Ich konnte sie nicht alle retten. Nicht auf einmal. Sie waren noch zu klein. Ich versuche es. Ich tat alles, aber am Ende konnte ich nur eines meiner Kinder retten. Ich konnte nur eines retten …«, Tiyas Stimme brach. Ihr ganzer Körper verlor an Spannung und kraftlos ließ sie sich auf den Bauch fallen, vergrub den Kopf unter den Vorderpfoten und ihr Leib zitterte. Alexis quietsche kurz, kam zu ihr und rollte sich neben ihr zusammen. Schob ihre Nase unter Tiyas Pfoten und stupste sie leicht an, bis beide ruhig nebeneinander lagen. Alexis versuchte mit all ihren Emotionen Trost  zu spenden und sie wusste auf einmal, dass ihr Leben vielleicht nie das war, wie sie es hätte haben wollen, aber das sie alle Chancen gehabt hatte, es zu ändern.

Das Karussell des Lebens dreht sich zu schnell. Alexis drückt sich die Fingernägel in das weiche Fleisch ihrer linken Hand. Das Leben ist schlimm genug, wieso kann sie nicht einfach die Augen schließen und im Schlaf ihre Ruhe haben? Die Geister des Tages verfolgen sie. Schreien ihr ins Ohr. Flüstern böse Wörter. Dringen in ihre Träume ein und zerstören auch diesen Rückzugsort. Sie will aussteigen, aber es geht nicht. Dazu müsste sie schreien, aber sie kann nicht! Sie kann nicht einmal atmen. Das Korsett ihres Lebens ist so eng geschnürt, dass sie glaubt zu ersticken. Sie kann nicht! Sie kann nicht! Sie kann nicht!

Ein grobes Kreischen riss sie aus ihrem Schlaf. Tiya war bereits auf die Pfoten gesprungen, die drei jungen Füchse drängten sich hinter sie.
Die Luft war stickig. Durchdrungen mit dunklem Qualm und Rauch. Es roch nach Feuer. 
»Was passiert hier?«, murmelte Alexis.
»Es brennt!«, antwortete Tiya angespannt, auch wenn Alexis keine Antwort erwartet hatte, zu offensichtlich war der Brandgeruch.
»Was sollen wir tun?«
Tiya musterte sie ausdruckslos.
»Wir müssen fliehen, irgendwo, wo wir das Feuer aussitzen können. Es ist zu groß und unkontrolliert. Der Wald ist ein den letzten Wochen ausgetrocknet, wir wissen nicht wie es sich verhalten wird.« Mit diesen Worten stupste Tiya die beiden Schwestern und Myko an und nacheinander verließen sie unsicher den Bau. Alexis folgte der kleinen Familie und hielt sich ans Ende des Zuges und passte auf, dass niemand zu weit abfiel. Sie spürte die böse Gegenwart des Feuers hinter sich und ein Schauer lief ihr übers Fell.

Alexis hungerte nach dem Schmerz. Sie wollte das Leben spüren. Und sie konnte es nur noch mit scharfem Metall auf ihrer blassen Haut wahrnehmen. Ihr Körper war eine Landkarte voller Markierungen. Sie starb innerlich. Schrie und schrie und schrie. Doch niemand hörte sie. Niemals!

»Lauf«, Tiyas Schrei riss sie aus ihren Gedanken und plötzlich spürte sie die Hitze viel zu nah an ihrem Fell. Qualm kroch ihr in die Nase. Flammenzungen leckten an den gesträubten Haaren ihres Schweifes. Sie quiekte erschrocken auf. Die Ohren starr nach hinten gerichtet, jede Faser in ihrem Körper angespannt. Sie spürte die Gefahr und den Tod. Zum ersten Mal seit langem wollte sie nicht sterben.
Myko vor ihr strauchelte. Ihm fiel es schwer auf seinen drei gesunden Pfoten und der einen verkrüppelten voran zu kommen. Sein Fell glimmte an einigen kleinen Stellen und er atmete schwer.
Alexis spürte seine Verzweiflung. Tiya und die Zwillingsmädchen waren schon ein Stück von ihnen entfernt. Hinter ihnen fauchten die Flammen und kamen immer näher.
Tiya sah zurück, in ihren Augen Angst und Hoffnungslosigkeit. Sie wusste, sie würde nicht alle drei Welpen retten können. Wieder nicht. Das Gefühl schnitt Alexis tief ins Herz.
Liebten ihre Eltern sie auch so sehr? Trotz allem was sie ihr nie gezeigt hatten? Waren sie ebenfalls so verzweifelt, als sie herausfinden mussten, dass ihre Tochter versucht hatte, sich umzubringen? War alle ihre Vorschriften und Vorhaltungen, das Geschrei und die Regeln nur ihr hilfloser Ausdruck gewesen ihr zu helfen? Alexis schrie innerlich. War sie einfach nur blind gewesen? Blind! Blind! Blind!

Weiter vorne erreichten Tiya, Maja und Lanie den Waldrand. Nur noch wenige Meter und die gefährliche Schnellstraße trennten sie von der Rettung.
Alexis warf einen Blick auf Myko. Sie lief noch immer direkt hinter ihm, obwohl die Flammen bereits die ersten Haare an ihrer Rute versengten. Der kleine Fuchs zitterte am ganzen Körper, es war offensichtlich, dass seine Kräfte am Ende waren. Vorsichtig versuchte sie ihn anzustupsen, doch Myko schien nicht zu reagieren. Er wurde nicht schneller, er wurde immer langsamer. Alexis quietschte als ein Zweig abbrach und ihr auf den Rücken fiel und dort kleine Löcher in ihren roten Pelz brannte. Ohne zu überlegen, packte sie den Fuchs und rannte weiter. Sie wusste nicht, ob sie Myko so tragen konnte, ob sie ihm weh tat, ob es sinnvoll war, sie musste einfach etwas tun. Sie rannte. Ihre Pfoten trommelten auf dem weichen Waldboden, begleitet vom Fauchen und Knistern der Flammen.
Wie groß war dieser Brand? Wieso brannte der Wald überhaupt? Fragen über Fragen, aber keine Antwort!

Es würde nie Antworten geben! Jeder fragte: Warum? Aber die viel wichtigere Frage ist: Warum nicht?
Und wen interessierte die Antwort wirklich? Hinterher fragt ihr euch alle, aber warum fragt ihr euch nicht vorher?
Ihr mobbt! Verurteilt! Beleidigt! Macht Witze! Grenzt aus!
Es ist euch egal! Solange es euch gut geht und es jemanden anderen trifft, den ihr fertig machen könnt, ist es euch egal!
Es ist euch egal!!!

Alexis stolperte. Myko flog ihr aus dem Maul. Sie waren an der Straße. So nah! So fern!
Myko stolperte nach vorne. Blieb stehen. Verunsichert. Lichtkegel eines Autos rasten heran. Es würde den Fuchs erwischen. Der blinzelte. Verwirrt. Was zum Teufel war das?

Das Licht kam näher. Sie stand am Straßenrand. Blickte die Straße entlang. Das Auto war schnell. So schnell. Sie machte einen Schritt nach vorne. Dann noch einen. Und dann stand sie mitten auf der Straße! Tränen liefen ihr über das Gesicht. All diese Verzweiflung. Diese Schmerzen in ihrem Herzen. Es war zu viel, viel zu viel und nun lief all dies aus ihr heraus.
Rot, so rot. Und die Welt hörte auf sich zu drehen!

Myko flog mindestens drei Meter weiter über die Straße, bis er sich überschlagend am Rand zu liegen kam.
Bremsen kreischten. Ein dumpfer Aufschlag. Ein Fuchs, der aufhört zu atmen. Ein anderer Fuchs, der sich langsam aufrappelt. Eine fauchende Flammenwand, die am Straßenrand ihre Wut verliert. Eine Nacht, die endet.

Es ist nie gut, wenn ein Mädchen Fuchs stirbt!

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