Warum / Farbschatten der Erinnerung


Aufmerksam sah sie sich um. Ihre blonden Haare waren vom Wind zerzaust. Ihre blau-grauen Augen blitzten intelligent. Sie war alleine, zumindest offensichtlich, aber sie wusste es besser. Überall waren unauffällig, oder teilweise auch auffällig, Kameras installiert. Jeder Schritt, jede Bewegung, einfach alles, wurde beobachtet. Genauso wie jedes Wort, wie jeder Laut, alles, was jemals die Kehle eines Menschen entschlüpfte, abgehört wurde.
Linnea war mit dieser Welt größtenteils aufgewachsen, aber oft versuchte sie sich vorzustellen, wie eine Welt, ihre Welt, ohne die vielen Kameras, ohne diese totale Bewachung wohl aussehen mochte.
"Linnea", ein junger Mann näherte sich ihr schnell und lächelte Linnea aufmunternd zu. Flüchtig berührten sie sich, vermiede, sich länger als ein paar Sekunden direkt anzusehen oder in Körperkontakt zu kommen. Es war nicht erlaubt in der Öffentlichkeit Gefühle zu zeigen, und eigentlich auch nicht privat, aber was hieß in dieser Welt schon privat, sofern man nicht verheiratet war. Und sie waren sich bereits näher gekommen als gut war, wenn sie keinen Ärger bekommen wollten. Nichts blieb ungestraft, alles, was dem Staat nicht gefiel wurde sofort zur Anklage gebracht und hart bestraft. Diese Welt hatte nichts übrig für Geheimnisse. Nichts blieb unentdeckt und nichts blieb im Verborgenen. Es gab kein Privatleben mehr, alles wurde mit Kameras ausspioniert, kein Wort verhallte ungehört, alles war computergesteuert und selbst das privateste Reich blieb nicht wirklich privat.
Dieses System hatte sich bereits vor vielen Jahren etabliert, lange bevor Linnea genug begreifen konnte, um es zu verstehen. Zu Beginn war dies nicht leicht gewesen, doch alle Proteste wurden schnellstmöglich unterdrückt und nach und nach ließen auch diese nach. Die Menschen hatten Angst und fanden sich langsam aber sicher damit ab, was blieb ihnen auch anderes übrig? Jede systemabfällige Äußerung wurde hart bestraft und somit traute sich nach geraumer Zeit niemand mehr den Mund aufzumachen. Das System war geschaffen worden um für Sicherheit zu sorgen, um Verbrechen zu verhindern, um Morden keine Chance zu geben. Von so vielen kritisiert, war das System heute nicht mehr wegzudenken. Die Menschen lebten so, wie es das System verlangte. Niemand äußerte mehr frei seine Meinung, aus Angst vor harten Strafen. Das System wurde stillschweigend akzeptiert, andere Meinungen gab es nicht.
"Komm", unauffällig umschloss seine Hand Linneas und zog sie sanft hinter sich her. Sie waren nicht mehr alleine auf der Straße vor ihnen ging ein dunkelhäutiger Mann, die Hände tief in den Taschen seiner Jacke vergraben.
Linnea blickte nach oben, zu der offensichtlich angebrachten Kamera. Wie immer fühlte sie sich unter ständiger Beobachtung. Obwohl sie damit aufgewachsen war, war dies dennoch nicht normal für sie. Immer wieder hatte sie Fragen gestellt und alles, das ganze System, hinterfragt. Sie hatte ihre Eltern damit fast in den Wahnsinn getrieben und sich mehr als nur einmal nahe der Grenze zum Abgrund befunden.
Oliver Hand streifte ihren Arm und kurz huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, bevor sie wieder vollkommen ernst wurde. Wie gerne hätte sie einmal wirklich ihre Gefühle für Oliver gezeigt. Wie gerne würde sie seine Lippen auf den ihren spüren. Mit einem entschlossenen Kopfschütteln unterbrach sie diese Gedanken und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorne. Sie hatten sich dem Mann weiter genähert und liefen jetzt nur wenige Meter hinter ihm. Unbewusst hatten sie den gleichen Weg gewählt und traten in den Schatten einer Überdachung, wo eine Treppe hinunter zur U-Bahn führte. Linnea musste kurz lächeln, hier unten fand die Überwachung ihren Höhepunkt.
Seufzend stellte sie sich hinter Oliver und drückte ihre Hand auf den Scanner und zischend öffnete sich die Tür um sie endgültig in den U-Bahn-Schacht einzulassen. Der Mann von oben war verschwunden und auch sonst wirkte hier unten alles leer und verlassen.
Plötzlich durch schnitt ein gellender Schrei die Stille. Erschrocken und auch ein bisschen ängstlich sah Linnea sich um. Oliver hatte ihre Hand ergriffen und sie näher zu sich gezogen. Wiederholt fegte ein Schrei durch die Stille. Linneas Herz klopfte, aber ihre Neugierde gewann die Oberhand und sie näherte sich der Stelle, wo der Schrei hergekommen war und zog Oliver dabei hinter sich her. Entsetzt entdeckte sie den dunkelhäutigen Mann auf dem Boden liegend, zwei Jugendliche neben ihm, die ihn festhielten und ein weiterer, der mit einem Messer über ihm hockte.
Linnea schrie auf. Ihre Augen blitzten vor Zorn. Die Jugendlichen sahen auf. Lächelten. Dann sprangen sie auf und rannten los. Der Mann lag blutend am Boden.

Überfall in U-Bahn-Station
Heute griff eine kleine Gruppe von Jugendlichen einen dunkelhäutigen Mann mit einem Messer an.
Das Opfer erlag noch am Tatort seinen schweren Verletzungen.
Die Täter konnten bisher nicht gefasst werden.

Die Polizei hatte alles über die Überwachungskamera beobachtet, doch sie konnten nicht schnell genug reagieren um einzugreifen.
Jetzt frage ich mich, wozu all diese Überwachungen? Der Satz "nur zu ihrer Sicherheit" kann nicht all das rechtfertigen …

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Das Monster schlägt wieder zu / Das Monster, welches meine Augen fraß

Kapitel 24 / Tränen des Mondes

Versteh mich doch / Farbschatten der Erinnerung