Erinnerungen / Farbschatten der Erinnerung


Gedankenverloren stand sie an dem großen Fenster im hellen Wohnraum. Sah die blühende, grüne Wiese. Sah alles, und doch nichts. Ihre Gedanken wanderten zu Geschehnissen an weit vergangenen Tagen. An Tagen, wo die Sonne noch strahlend hell schien, die Nacht nicht kalt und abweisend war, wo die Nacht vor allem noch ein Ende gehabt hatte. An eine Zeit, wo sie glücklich gewesen war. Es erschien ihr alles so weit entfernt.

Alles war wieder da. Hier im Garten, genau vor eben diesem Fenster, an dem sie nun stand – Jahre später – hatte sie mit ihrem Bruder im Gras gesessen. Hatte seine Nähe gespürt, hatte sein Lachen vernommen, war glücklich gewesen, ihn neben sich zu wissen. Er war immer da gewesen wenn sie ihn gebraucht hatte.
Bis zu eben jenem Tag, der alles verändern sollte. Tränen schossen ihr in die Augen, immer noch, selbst nach dieser langen Zeit. Sie erinnerte sich noch genau an jenen unheilvollen Tag im Januar. Es war ein kalter, ungemütlicher Tag gewesen und es hatte ohne Unterbrechung geregnet.
Ihre Erinnerungen waren glasklar, sie sah alles vor sich, als wäre es erst gestern gewesen. Wie die Polizei spät abends an der Haustür geklingelt hatte. Der eine Polizist war ungeduldig gewesen, hatte unablässig auf die Uhr gestarrt, wollte endlich nach Hause. Der andere war ruhig, teilte ihnen mit, was geschehen war. Sie hatte etwas in seinen Augen gesehen. Mitleid vielleicht? Sie war sich nicht sicher gewesen, zu groß war der Schock. Wieder sah sie ihre Mutter neben sich zusammenbrechen, wie ihre Tränen sich mit dem Regenwasser auf den Boden vermischten. Dann war alles weg.
Sie hatte nicht geweint, war stark gewesen, für ihre Mutter. Erst Jahre später hatte sie angefangen zu weinen. Es war alles aus ihr herausgebrochen. All die Trauer, die Wut und auch der Hass. Hass auf das, was geschehen war. Hass auf ihren Bruder, weil er nicht mehr da war. Hass auf ihre Mutter, weil sie nicht für sie da sein konnte. Sie wusste, dass es nicht gerecht war, aber anders konnte sie es einfach nicht verarbeiten. Der Tod ihres Bruders war zu viel für sie gewesen, auch wenn sie es nie gezeigt hatte. Weil sie stark sein musste, für ihre Mutter. Es hatte sie hart getroffen, erst ihren Mann (der Vater, den sie nie gekannt hatte) und dann ihr Sohn, ihr ältester Sohn. Sie war nie darüber hinweg gekommen, hatte ihre Tochter alleine gelassen. Alleine mit der Trauer, dem Unverständnis und mit dem Leben. Damals hatte sie sich um alles gekümmert. Alles, was gemacht werden musste, hatte sich auch um den kleinen Bruder gekümmert, der nichts verstanden hatte. Für ihn fehlte jemand, aber er war zu klein gewesen um zu begreifen.

Und nun stand sie hier. Hatte ihren Frieden gemacht. Hatte ihrer Mutter längst verziehen. Ihr großer Bruder war immer in ihrem Herzen, wo auch immer er jetzt war.
Ein kleiner, blonder Junge tauchte auf der Wiese vor dem Fenster auf und sah sie lächelnd an.
"Mutti, kommst du? Papa wartet schon."
"Ja mein Schatz." Lachend rannte der Kleine zum Auto. Noch ein letztes Mal sah sie aus dem Fenster und ging. Ging für immer, doch vergessen wird sie nichts.

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