Brief von der Front / Farbschatten der Erinnerung


Meine Liebe (1916)

Es wird immer schlimmer. Dieser Gestank. Vergeblich versucht der Wind den Gestank zu vertreiben, aber es gelingt ihm nicht. Der Geruch des Todes hängt unvertreibbar über dem Schlachtfeld, welches eher die Bezeichnung "Gemetzelfeld" verdient hätte. Wenn du diesen Brief bekommst, werde ich vielleicht schon durch den Tod ins Leben gegangen sein. Dies hier ist kein Leben mehr. Alle Kultur, alle Eigenheit, geht zum Teufel. Alle sterben. Wie viele sind bereits gestorben. Erst gestern. Wir waren unter Dauerbeschuss. Neben, über, unter uns, einfach überall. Es kam von überall her. Mein Herz schlug so laut, dass ich dachte, meine Feinde müssten es über Meilen hinweg hören. Erich, der direkt neben mir lag, wurde angeschossen. Ich habe ihn brüllen hören, dann war es still. Er lag neben mir. Einfach so. Seine Augen waren gebrochen. Sein Mund dagegen schien zu lächeln. Leicht nur, aber immerhin. Fast beneide ich ihn ein bisschen, aber nur fast. Dann befinde ich mich wieder mittendrin. Der Lärm stürzt auf mich ein. Höre die Schüsse. Höre die Schreie. Sehe alles überdeutlich Mit einem Mal wird alles leiser, die Franzmänner ziehen sich zurück. Ich bin schweißgebadet. Mein Herz hämmert. Ich zittere. Ich bin wie gelähmt, doch alle Worte können nicht beschreiben, was ich sehe, was ich fühle, was ich empfinde. Ich weiß, niemand kann sich ein Bild davon machen. Niemand, der nie gesehen, nie miterlebt hat. Ich will dich nicht erschrecken. Ich will nur heimkehren, diesen Unsinn vergessen. Sollte ich fallen, so lass mich hier. Lass mich bei meinen Kameraden schlafen. Lass mich in Frieden ruhen. Aber ich will dich mit meinen Worten nicht beunruhigen. Ich wünsche dir alles Gute. Ich liebe dich und hoffe, dich wiederzusehen.

Dein Max

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